Nina Herrmann, Brigitta Busch: Worte finden für das Unsagbare Die Bedeutung der Sprache in der Psychotherapie mit traumatisierten geflüchteten Menschen

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2019/01
ISSN 2312–5853

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Nina Hermann 1 *, Brigitta Busch 2

Worte finden für das Unsagbare
Die Bedeutung der Sprache in der Psychotherapie mit traumatisierten geflüchteten Menschen

 

Zusammenfassung
Der Beitrag befasst sich mit Wechselwirkungen zwischen traumatischem und sprachlichem Erleben. Dabei wird auf neurobiologische und soziolinguistische Aspekte eingegangen. Durch eine Zusammenschau unterschiedlicher Disziplinen (Medizin, Psychologie, Linguistik, Soziologie) sollen praxisrelevante Überlegungen für die psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen diskutiert werden.

Abstract
The article refers to the interaction between traumatic experiences and „Spracherleben” (the lived experience of language). The focus lies on neurobiological and sociolinguistic aspects as well as the interplay between different disciplines (medicine, psychology, linguistics, sociology) which enables practical application in psychotherapeutic work with traumatized refugees.

Keywords: Trauma, PTSB (Posttraumatische Belastungsstörung), Spracherleben, Sprachenporträt

 

1 Psychotherapeutin, Verein Hemayat, 1090 Wien

2 Sprachwissenschafterin der Universität Wien

* Korrespondenz über diesen Artikel ist zu richten an Dr.in Nina Hermann, Augartenpraxis, Scholzgasse 2/2, 1020 Wien E-Mail: nina_hermannⒶgmx.at

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1. Einleitung

Im Zuge der Migrationsbewegungen kommen häufig Menschen in Psychotherapie oder Beratung, deren Sprache wir nicht verstehen beziehungsweise die der unseren nicht mächtig sind. Zudem handelt es sich in vielen Fällen um Personen, die durch Kriegsgeschehen, Verfolgung und Flucht, aber bisweilen auch durch rassistische und menschenunwürdige Behandlung in den Aufnahmeländern wiederholten Traumatisierungen ausgesetzt waren und sind. Man kennt die Redewendungen „es verschlägt mir die Sprache”, „es fehlen mir die Worte”, „ich bin sprachlos”, wenn wir Situationen erleben, die wir nicht fassen, nicht begreifen können.

Sprachlosigkeit aus unterschiedlichsten Gründen ist daher ein zentrales Thema für Menschen, die traumatisierende Erfahrungen machen mussten.

Die vorliegende Arbeit möchte sich dem Zusammenhang zwischen Trauma und Sprache aus verschiedenen Richtungen annähern:

  • Neurobiologische Aspekte – Trauma und Gehirn
  • Soziolinguistische Aspekte – Trauma und Spracherleben
  • Psychodynamische Aspekte – Trauma und Therapie

Durch die Zusammenschau unterschiedlicher Disziplinen sollen praxisrelevante Überlegungen für Psychotherapie und Beratung diskutiert werden.

 

2. Begriffliche Klarstellungen

Vorab ein paar Worte zum Traumabegriff, der im gegenwärtigen Diskurs häufig unscharf bis inflationär verwendet wird. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde. Es handelte sich ursprünglich um einen medizinischen Terminus, der im Falle des Psychotraumas vom Körper auf die Seele übertragen wurde.

Fischer und Riedesser (1998, S. 84) definieren psychisches Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt”. Janoff-Bulman (1992) spricht in diesem Zusammenhang von erschütterten Grundannahmen – “shattered assumptions”.

Aus obiger Definition geht hervor, dass es sich einerseits um massive Bedrohungen, oft gepaart mit Todesangst, handelt, und dass andererseits in den meisten Fällen mit dauerhaften Folgen zu rechnen ist. Keinesfalls solle der Begriff, so der Traumatherapeut David Becker (2003, S. 67), für kleinere Kränkungen und Verletzungen verwendet werden, sondern sei für Erfahrungen zu bewahren, die einen „tiefen Riss, eine Wunde in der psychischen Struktur verursachen”.

Im psychiatrischen Kontext werden Trauma und seine Folgestörungen seit den 1980er Jahren im amerikanischen Diagnose-Manual DSM mit dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung/Posttraumatic Stress Disorder (PTBS/PTSD) assoziiert. Becker (2003, 2014) äußert einige Kritikpunkte daran: Vor allem bezogen auf “man-made” Traumata erachtet er weniger die Reaktionen und Verhaltensweisen der Betroffenen als krank und anormal als die sie auslösenden Ursachen, nämlich Gewalt, Verfolgung, Folter. Zudem sei die Bezeichnung ‘post’ insofern irreführend, als es in vielen Fällen kein klar definiertes Ende des Traumas gibt, es oft lebenslang (latent) präsent ist und durch unterschiedliche Reize, sogenannte Trigger, immer wieder aktualisiert werden kann. Auch werde die westlich geprägte Sicht auf die Symptomatik den subjektiven und kulturspezifischen Erscheinungsbildern nicht gerecht.

 

3. Trauma und Gehirn

In lebensbedrohlichen Situationen haben Individuen prinzipiell zwei Möglichkeiten, um der Gefahr zu entkommen: zu kämpfen (fight) oder zu fliehen (flight). Sind beide nicht möglich, wird eine Art Totstell-Reflex ausgelöst (freeze).

In diesem Einfrier-Zustand werden Gehirnprozesse auf ein basales Überlebensniveau reduziert (van der Kolk, 2018): Wahrnehmungen gelangen vom Gehirnstamm in die Mandelkerne, in die sogenannten Amygdala, werden dort hochemotional aufgeladen, Stresshormone wie Adrenalin und Corticoide werden freigesetzt, aber eine Weiterleitung an höhere Zentren und die Großhirnrinde wird weitgehend unterbrochen. Ein Ordnen, Analysieren und Verknüpfen mit bisher Erlebtem und Bekanntem unterbleibt, auch die Verbindung zum Sprachzentrum ist teilweise blockiert. Die Sprache wird fragmentiert, die Logik bricht auseinander.

Viele Extremtraumatisierte können das, was ihnen angetan wurde, oft nicht in Worte fassen. Wir sprechen von namenlosem Grauen, sprachlosem Entsetzen, “speechless terror”. Einer sprachlichen Auseinandersetzung mit den erlebten Traumata sind somit bereits auf neurobiologischer Ebene Hindernisse in den Weg gelegt. Miteinander ins Gespräch kommen stellt somit, vor allem zu Beginn einer therapeutischen Beziehung, eine große Herausforderung für KlientInnen und TherapeutInnen dar.

 

4. Trauma und Spracherleben als Wechselbeziehung

4.1. Zum Konzept Spracherleben

Um die Wechselwirkungen zwischen Traumatisierung und Sprache zu untersuchen, kann das Konzept des Spracherlebens herangezogen werden, das darauf verweist, dass erinnerte Situationen oder Szenen auch damit verknüpft sind, wie wir uns als Sprechende oder Angesprochene erlebt haben. Unter Spracherleben verstehen wir die Art, wie man sich in einer verbalen Interaktion in Relation zum Gegenüber selbst erlebt. Im Wesentlichen geschieht dies entlang der drei Achsen Anerkennung/Nicht-Anerkennung, Zugehörigkeit/Ausschluss, Macht/Ohnmacht (Busch, 2016, S. 92).

Auf diese Weise werden Sprachen und Sprechweisen mit Erfahrungen und Zuschreibungen verknüpft, ohne dass uns dies in den meisten Fällen bewusst wird. In Anlehnung an Merleau-Ponty (1966) lässt sich sagen, dass Spracherleben eine leiblich-emotionale Dimension hat, gleichsam in den Körper eingeschrieben ist (embodiment).

Im Zusammenhang mit “man-made disaster” - also mit Gewalt, Verfolgung, Flucht – ist Sprache in der einen oder anderen Form immer präsent und sei es durch ihre Abwesenheit. Sprachliche Verletzungen können dabei die unterschiedlichsten Ausformungen annehmen. Der nachfolgende Abschnitt fasst die an anderer Stelle (Busch, 2016) ausgeführten und mit Literaturverweisen versehenen Überlegungen zusammen.

4.2. Sprachliche Verletzungen

Gewalt durch Sprache
Anschreien, Beleidigen, Beschimpfen führt zur Herstellung eines Machtgefälles und zur Aberkennung der Subjektqualität bis hin zur Entmenschlichung. Herabwürdigende Bezeichnungen für jüdische Menschen durch die Nationalsozialisten, Aberkennung des Eigennamens und Ersatz durch anonymisierende Häftlingsnummern in den Konzentrationslagern sind Beispiele hierfür.

Sprachlose Gewalt
Schweigen und Gewalt sind im Kontext von Krieg und Verfolgung oft untrennbar miteinander verbunden, sei es durch ein Nicht-Sprechen über Erlebtes aus Angst oder Scham, sei es, um sprachliche Zugehörigkeiten zu verbergen und sich vor dem Enttarnt-Werden zu schützen.

Aber auch der Verlust sprachbedingter Handlungsfähigkeit in einer fremden sprachlichen Umgebung, das Gefühl eigener Sprachlosigkeit, kann mit einem früheren Trauma verbundene Gefühle der Machtlosigkeit verstärken oder wieder aufrufen.

Ausgrenzung durch Sprache
Bestimmte Formen des Sprachgebrauchs können als Hinweise auf nationale oder ethnische Zugehörigkeiten interpretiert werden. In ethnischen Konflikten werden solche Zuschreibungen oft herangezogen, um Anderssprechende zu verfolgen und zu vertreiben. Sprachwissenschaftlich umstrittene Gutachten zur Feststellung der Herkunft von AsylwerberInnen (LADO – Language Analysis for the Determination of Origin) führen oft zu fatalen Konsequenzen für die Betroffenen.

Gewalt durch Sprachverbot
Sprachverbote wurden und werden als Mittel politischer Machtausübung eingesetzt, in kolonialen und postkolonialen Kontexten ebenso wie gegenüber Minderheiten oder Zugewanderten, wobei die verbotenen Sprachen und jene, die sie sprechen, in der Regel als minderwertig abqualifiziert werden. Ein Beispiel für die Missachtung dessen, was eine Sprache für jene, die sie sprechen, bedeutet, sind auch die jeder pädagogischen Sinnhaftigkeit entbehrenden Verbote an Schulen, die Familiensprache während der Pausen zu verwenden.

4.3. Sprache im posttraumatischen Prozess

Traumatische Interaktionserfahrungen, eingeschrieben im Körpergedächtnis, haben langfristige Auswirkungen auf die sprachliche Ausdrucksfähigkeit geflüchteter Menschen. Traumaprozesse haben nach Keilson (1979) sequentiellen Charakter. Die Phase der Ankunft an einem Ort der Sicherheit, wie es ein Aufnahmeland darstellen sollte, wäre ungemein wichtig, um Vertrauen aufbauen zu können und Kontrolle und Selbstwirksamkeit wiederzugewinnen. Viele Faktoren stehen aber Ansätzen eines möglichen Heilungsprozesses im Weg. Sprachliche Barrieren aus unterschiedlichsten Ursachen spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Das Ausgeliefertsein durch sprachliche Hilflosigkeit bewirkt Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit. Ausgrenzung und rassistische Ressentiments machen „mundtot” und führen nicht selten zu Verstummen und Rückzug. Viele AsylwerberInnen wünschen nichts brennender, als die Sprache des Aufnahmelandes möglichst einwandfrei zu beherrschen. Mangelnde Angebote, hohe eigene Perfektionsansprüche, aber auch trauma-assoziierte Symptomatiken (Konzentrationsstörungen, mangelnde Merkfähigkeit, Nervosität, Anspannung durch Ungewissheit über den Ausgang des Asylverfahrens) stellen erhebliche Hindernisse dar und führen nicht selten zum Nachlassen der Motivation.

Ein besonders kritischer Aspekt ist die erzwungene, möglichst detaillierte Versprachlichung der traumatischen Erlebnisse bei behördlichen Einvernahmen, die nicht selten bei den betroffenen Personen zu einer sekundären Traumatisierung mit Flashbacks, Panikattacken und dissoziativen Zuständen führt.

Das schmerzhafte Erinnern an bestimmte Sprachen, Dialekte oder Akzente kann zur Folge haben, dass MigrantInnen und Flüchtlinge gewisse Sprachen, manchmal sogar ihre Erstsprache, meiden oder sogar aufgeben, um in der Fremde mit Hilfe der neuen Sprache gewissermaßen eine neue Subjektposition zu beziehen. Eine Fülle literarischer Texte dazu findet sich in der Sammlung „Mitten durch meine Zunge” von Brigitta und Thomas Busch (2008).

 

5. Trauma und Therapie

Praxisrelevante Überlegungen für Psychotherapie und Beratung

Nach den vorangegangenen Ausführungen stellt sich die Frage: Wie kann es traumatisierten Menschen gelingen, das Schweigen zu überwinden, Ausdrucksformen für das Unsagbare zu finden und ein wertschätzendes Gegenüber als Zeugen für erlittenes Unrecht anzunehmen?

5.1. Nonverbale Kommunikationsformen – Kunst, Musik, Bewegung

Immer dann, wenn Worte fehlen, um sich auszudrücken und mitzuteilen, sei es durch ein dem Trauma geschuldetes Verstummen, sei es mangels an Kenntnissen einer gemeinsamen Sprache, kann auf nonverbale Kommunikationsformen zurückgegriffen werden. Kunst (Malen, Zeichnen, Modellieren) und Musik als wortlose Kommunikationsmöglichkeiten werden seit langem im therapeutischen Bereich immer dort eingesetzt, wo der sprachliche Ausdruck, aus welchen Gründen auch immer, nicht oder nicht ausreichend möglich ist. Dies gilt selbstverständlich auch für traumatisierte geflüchtete Menschen.

Im Zusammenhang mit Trauma spricht man, wie weiter oben ausgeführt, von einem sogenannten Freeze-Zustand: Das traumatische Ereignis wird in den Organismus eingeschrieben und seelisches wie körperliches Erleben befinden sich in einem Erstarrungszustand, der natürliche Fluss ist unterbrochen. Sport- und Bewegungstherapien beinhalten Ansätze, die versuchen, diesen Zustand vom Körperlichen her aufzubrechen. Im Verein Hemayat, einer Einrichtung in Wien, die Psychotherapie für Folter- und Kriegsüberlebende anbietet, gibt es ein Kooperationsprojekt (Movikune) mit dem sportwissenschaftlichen Institut der Universität Wien, das getrenntgeschlechtliche Sport- und Bewegungsgruppen für KlientInnen anbietet. Menschen mit unterschiedlichem sprachlichen Hintergrund entdecken Sport, Spiel und Tanz sowie gemeinsame Aktivitäten als wertvolle Ressource.

5.2. Dolmetschgestützte Therapie

Wird allerdings eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit den erlittenen Traumata angestrebt und ist der gemeinsame Wortschatz zwischen KlientIn und TherapeutIn zu dürftig, sind sogenannte Kommunaldolmetscher (community interpreters) als Dritte im Bunde erforderlich. Zudem sind in vielen Fällen emotional hoch aufgeladene Inhalte in der Erstsprache besser ausdrückbar. Über dolmetschgestützte Psychotherapie durch Sprach- und KulturmittlerInnen, wie ÜbersetzerInnen in diesem Setting auch bezeichnet werden, gibt es ausreichend Literatur (Dabić, 2017). Hier sei nur auf ein paar praxisbezogene Aspekte hingewiesen. Dabei ist auf Herkunft (auch Volksgruppenzugehörigkeit spielt eine Rolle), Alter, Geschlecht, soziale Schicht und religiöse Orientierung, aber auch auf die sprachliche Ausbildung (das bloße Beherrschen einer Sprache ist nicht ausreichend!) und das Wissen um psychische Prozesse im Rahmen einer Therapie oder Beratung zu achten. Die in der therapeutischen Beziehungskonstellation übliche Dyade wird durch eine Triade ersetzt. Im Dreieck angeordnete Sitzpositionen haben sich dabei in der Praxis zumeist am besten bewährt.

Besonderes Augenmerk ist allerdings auf mögliche Koalitionsbildungen zu legen. Da KommunaldolmetscherInnen oft aus ähnlichen Gründen wie die KlientInnen ihre Heimatländer verlassen haben (Krieg, Vertreibung, Verfolgung), muss bei den Dolmetschenden unter Umständen durch das Wiedergeben von belastenden Inhalten mit einer Sekundärtraumatisierung gerechnet werden. Regelmäßige Vor- und Nachbesprechungen sowie eine tragfähige Beziehung zwischen DolmetscherIn und TherapeutIn sind daher Voraussetzung. Wie sich der Alltag einer Kommunaldolmetscherin im Asylbereich gestaltet, wird im autobiografisch gehaltenen Roman „Reibungsverluste” von Mascha Dabić (2017) in lebendiger Weise geschildert.

5.3. Das Sprachenporträt – ein Instrumentarium, um sprachliche Ressourcen sichtbar zu machen

Als hervorragendes Instrumentarium, um unterschiedliche Dimensionen des Spracherlebens sichtbar und nachvollziehbar zu machen, kann das sogenannte Sprachenporträt herangezogen werden. Bei dem ursprünglich in der Pädagogik eingesetzten Konzept handelt es sich um die Silhouette eines menschlichen Körpers auf einem Blatt Papier.[1] Diverse Sprachen, aber auch Dialekte oder andere Sprechweisen, welche der betroffenen Person geläufig sind oder wichtig erscheinen, werden grafisch zu Papier gebracht und durch unterschiedliche Farben und Lokalisation inner- oder auch außerhalb des Körperumrisses festgehalten. Dadurch entsteht eine Projektionsfläche für die subjektive, emotionale Färbung sowie für das damit verbundene leibliche Erleben der Person in Verbindung mit dem Hören oder Sprechen einer bestimmten Sprache oder Sprechweise.

Das Sprachenporträt wurde für den pädagogischen Kontext entwickelt und in der Folge, unter anderem von Krumm (2001), schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit in Schulklassen zur Anwendung gebracht. Busch (2006), die das Sprachenporträt zu einem Forschungstool weiterentwickelt hat, beschreibt ihre Unterrichtserfahrungen in einem panafrikanischen Kurs für Erwachsenenbildung in Kapstadt, wo neben persönlich-biografischen vor allem gesellschaftspolitische Aspekte sichtbar wurden: so unterschied eine Teilnehmerin zwischen ihrer traditionellen Herkunftssprache Oshivambo (“language of my heart”), der aufgezwungenen Kolonialsprache (Afrikaans) und der Drittsprache Englisch als Lingua franca, welche Türen für die Zukunft öffnen kann.

In einer Pilotstudie (Busch & Reddemann, 2013) untersuchten Aigner, Busch und Reddemann (2014) den Einsatz des Sprachenporträts bei PatientInnen auf der Erwachsenenpsychiatrie einer österreichischen Klinik. Durch die Kooperation verschiedener Berufsgruppen (Medizin, Linguistik, Trauma-Psychotherapie) sollten dabei unterschiedliche Aspekte der Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit und Resilienz erfasst werden.

Abgesehen von der Vielfalt an Sprachen, Dialekten und anderen Sprechweisen, die von den TeilnehmerInnen sichtbar gemacht wurden, konnten bislang unerkannt gebliebene biografische Elemente zu Tage gefördert und emotionale Zusammenhänge hergestellt werden.

Aufgrund der ermutigenden Ergebnisse der Pilotstudie kann der Einsatz des Sprachenporträts im Rahmen der Psychotherapie geflüchteter traumatisierter Menschen in Einzelfällen als zusätzliches Instrumentarium angewendet werden.

Erste Erfahrungen liefern wertvolle Informationen bei der Erfassung lebensbiografischer Zusammenhänge und geben Hinweise auf traumasensible Inhalte. Die Bewusstmachung der Kenntnisse unterschiedlichster Sprachen der Betroffenen sowie das Interesse und die Wertschätzung seitens des/der TherapeutIn scheint in vielen Fällen Selbstwert und Selbstwirksamkeit der KlientInnen zu fördern. Ein Faktor, der wiederum positiven Einfluss auf den erforderlichen Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes haben könnte.

Hierzu ein Fallbeispiel eines jungen afghanischen Flüchtlings, der folgendes Sprachenporträt anfertigte:

 

Abbildung 1: Fallbeispiel Sprachenporträt eines jungen afghanischen Flüchtlings

 

Im anschließenden Gespräch gab der Klient folgende Erklärungen dazu ab:

Dari (grün)
Die Muttersprache befindet sich im Kopf und den beiden Daumen. Afghanistan ist für ihn ein grünes Land. Er möchte die Sprache halten wie ein Baby, das sich anklammert.

Usbekisch (rot)
Die Sprache verbindet er mit der schwierigen Zeit in einer Madrasa, wo er misshandelt wurde.

Paschtu (schwarz)
Dazu gibt es Assoziationen zu Zwang und Gewalt.

Türkisch (blau)
Als Junge besuchte er frühmorgens vor der Regelschule einen Türkisch-Kurs; mit Blau verbindet er den morgendlichen blauen Himmel und einen kleinen Bach, den er durchqueren musste (Hose aufkrempeln – Hand und Fuß sind daher blau gemalt).

Deutsch (orange)
Die erhobene rechte Hand bedeutet in Afghanistan Freiheit. Seine ersten deutschen Worte waren „Guten Morgen”, er war aufgestanden und die Sonne schien.

Latein (braun)
Sein Lernzimmer im Elternaus hatte eine braune Farbe und viele Bücher. Es war ruhig und gut zum Lernen.

Dieses Sprachenporträt wurde in der fünften Therapiesitzung durchgeführt. Es ist faszinierend, welch Fülle von Informationen es beinhaltet: man erfährt über die sprachliche Zugehörigkeit, über Bildungsmöglichkeiten, die dem jungen Menschen geboten wurden (Türkisch- und Lateinunterricht), bekommt Hinweise über gewaltsame traumatische Erfahrungen in einer Koranschule (rote und schwarze Farbflächen im Nacken- und Rückenbereich sind mit Angst und Schmerzen assoziiert) und begreift die Bedeutung der deutschen Sprache als Hoffnungsträger für Freiheit und Zukunftsperspektive.

Als berührendes Detail am Rande erzählte der junge Mann seinen ersten Kontakt in Wien: Er hatte beschlossen, nicht mehr mit seinem Schlepper weiterzureisen, ohne zu wissen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt in Wien befand. Als er auf der Straße türkischen Jugendlichen begegnete und um Hilfe bat – seine Türkisch-Kenntnisse erwiesen sich als segensreiche Ressource – rieten ihm diese, sich in Traiskirchen zu melden. Im Zuge seines Erstinterviews stellte sich heraus, dass sich sein älterer Bruder, der zeitlich vor ihm geflüchtet war und den er in Deutschland vermutete, ausgerechnet in Wien gelandet war. All dies kam in einer einzigen Therapiesitzung ans Licht.

Die Anfertigung des Sprachenporträts dauerte etwa 30 Minuten, den Rest der Stunde verwendeten wir für die Besprechung desselben. Die Kommunikation fand übrigens auf Deutsch statt. Es ist immer wieder erstaunlich, in welch kurzer Zeit vor allem jugendliche Flüchtlinge sich Sprachkenntnisse aneignen.

Die Tatsache, dass KlientIn und TherapeutIn oft nicht dieselbe Sprache sprechen, kann ohne Zweifel sehr hinderlich sein und manchmal zu irritierenden Missverständnissen führen. Aus obigen Ausführungen geht jedoch hervor, dass es viele Möglichkeiten gibt, um miteinander in Kontakt und somit in Kommunikation zu kommen: ob auf nonverbalem Weg, mit Hilfe eines Dolmetschers/einer Dolmetscherin oder durch eine gemeinsame Drittsprache. Immer wieder wird von der „Sprache als dem Tor zur Welt” gesprochen. Da jedoch die meisten Menschen mehrsprachig sind, gilt es, mehrere Tore im Blick zu haben, durch die sich die Welt erkunden lässt. Aufgeschlossenheit und Interesse nicht nur an der Lebensgeschichte unserer KlientInnen, sondern auch an deren sprachlicher Vielfalt und Ausdrucksweisen können helfen, traumatisierte Menschen aus ihrer Sprachlosigkeit herauszuführen und dem erlebten Schrecken Namen und Bedeutung innerhalb ihrer Biografie zu geben.

 

6. Schlussfolgerung

Die Auswirkungen traumatisierender Erlebnisse auf sprachliches Erleben sind vielfältig und versperren oft den Weg für gegenseitiges Verstehen zwischen den betroffenen Menschen und ihrem Gegenüber. Das Ziel dieser Arbeit war es, sich dem Phänomen Trauma in Wechselwirkung mit sprachlichem Erleben aus unterschiedlichen Richtungen anzunähern, um brauchbare Erkenntnisse für die praktische psychotherapeutische Arbeit mit geflüchteten traumatisierten Menschen zu gewinnen.

Das Instrumentarium Sprachenporträt kann Menschen dabei helfen, ihre Herkunftssprachen als Ressource zu betrachten. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass die Auseinandersetzung mit der persönlichen Geschichte trotz der traumabedingten Erschütterungen zu einem tieferen Verständnis vielleicht sogar zur Akzeptanz des eigenen Gewordenseins führen kann.

 

Literatur

Aigner, M., Busch, B. & Reddemann, L. (2014). Mehrsprachigkeit und Resilienz. Eine transdisziplinäre explorative Pilotstudie. Projektbericht Universitätsklinikum Tulln.

Becker, D. (2003). Flüchtlinge und Trauma. Verwaltet, entrechtet, abgestempelt – wo bleiben die Menschen? Einblicke in das Leben von Flüchtlingen in Berlin. Hrsg. von Projekttutorien „Lebenswirklichkeiten von Flüchtlingen in Berlin”/Behörden und Migration, Berlin, S. 67–73.

Becker, D. (2014). Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Busch, B. (2006). Language biographies ­–­ approaches to multilingualism in education and linguistic research. In: Busch, B., Jardine & A. Tjoutuku, A.: Language biographies for multilingual learning. Cape Town. PRAESA, Occasional Papers No. 24, 5-17.

Busch, B. (2015). Zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung: Zum Konzept des Spracherlebens, in: Schnitzer, A. & Mörgen, R. (Hrsg.). Mehrsprachigkeit und (Un)Gesagtes:Sprache als soziale Praxis im Kontext von Heterogenität, Differenz und Ungleichheit. Beltz Juventa, Basel, S. 49–66.

Busch, B. (2016). Sprachliche Verletzung, verletzte Sprache: Über den Zusammenhang von traumatischem Erleben und Spracherleben. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 89. Flucht_Punkt_Sprache. Universitätsverlag Rhein-Ruhr OHG, Duisburg, S. 85-108.

Busch, B. & Busch, T. (Hrsg.)(2008): Mitten durch meine Zunge. Erfahrungen mit Sprache von Augustinus bis Zaimoğlu. Klagenfurt, Celovec. Drava Verlag.

Busch, B. & Reddemann, L. (2013). Mehrsprachigkeit, Trauma und Resilienz. Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische Medizin. 11(3), 23–33.

Dabić, M. (2017). Reibungsverluste. Wien. Edition Atelier.

Fischer, G. & Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt, München, 4. akt. und erw. Aufl.

Janoff-Bulmann, R. (1992). Shattered Assumptions. Towards a New Psychology of Trauma. New York. The Free Press.

Krumm, H.-J., (Krumm, H.-J. & Jenkins E.-M. (Hrsg) (2001): Kinder und ihre Sprachen – Lebendige Mehrsprachigkeit. Sprachenporträts – gesammelt und kommentiert von Hans-Jürgen Krumm. Wien: eviva WienerVerlagsWerkstatt.

Keilson, H. (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kinder. Stuttgart: Enke.

Merleau-Ponty, M. (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Walter de Gruyter.

van der Kolk, B. (2018): Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. Deutsche Ausgabe, Lichtenau/Westfalen: Probst Verlag.

 

Eingegangen: XX. Mai 2019
Peer Review:
XX.Mai 2019
Angenommen:
XX. Mai 2019

 

Autorinnen

Nina Hermann ist klientenzentrierte Psychotherapeutin mit langjähriger Erfahrung im sozialpädagogischen Bereich (Verein KIWOZI Schwechat). In den letzten Jahren liegt ihr Arbeitsschwerpunkt in der Psychotherapie mit geflüchteten Menschen in Zusammenarbeit mit dem Verein Hemayat.

Brigitta Busch forscht und lehrt am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. 2009 wurde ihr für ihre Arbeit zu Sprachbiographien, Spracherleben und Sprachrepertoire eine Berta-Karlik-Professur verliehen.

 

Diesen Artikel zitieren als: XXX, X. (2019). XXXX. Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, 5, Y–ZZ.

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