Stefanie Granzner-Stuhr - Zur Rekonstruktion der Handlungspraxis. Dokumentarische Methode & Gruppendiskussion.

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2014/01
ISSN 2312–5853

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Stefanie Granzner-Stuhr1

Zur Rekonstruktion der Handlungspraxis.
Dokumentarische Methode & Gruppendiskussion.

Zusammenfassung

Bei der dokumentarischen Methode wird der spezielle Fokus auf die Rekonstruktion der Praxis gelegt. Es stellt sich dabei die Frage, wie es möglich ist, auf Basis ungeordneter Daten (z.B. aus Interviews oder Gruppendiskussionen) empirisch fundierte Erkenntnisse zu gewinnen.

Abstract

The documentary method places a particular focus on the reconstruction of the practical experience. It raises the question of how it is possible to gain empirically sound insights from random data (e.g., from interviews or group discussions).

Keywords Dokumentarische Methode, Rekonstruktive Sozialforschung, Gruppendiskussionsverfahren, formulierende und reflektierende Interpretation, Typenbildung

1Korrespondenz: stefanie.granznerⒶsfu.ac.at

Einleitung

Als Begründer der dokumentarischen Methode wird Karl Mannheim (1893 – 1947) angesehen, der als einer der Ersten in der Rekonstruktion der Praxis („Standortgebundenheit“) den Weg dazu aufzeigte, das Entstehen und die Akzeptanz von bestimmten Denkhaltungen zu verstehen („Strukturen des Denkens“, 1922-1925).

In weiterer Folge wurde die Methode in der Chicagoer Schule von Harold Garfinkel (1917 – 2011), einem Erforscher von Alltagskommunikation, aufgenommen und weiter entwickelt (siehe dazu „Studies in Ethnomethodology“, 1967).

Im deutschen Sprachraum muss vor allem Ralf Bohnsack (FU Berlin) als bedeutender Vertreter der dokumentarischen Methode genannt werden. Er adaptierte die Methode vor allem auch für deren Einsatz in der Bild- und Videointerpretation (siehe dazu „Rekonstruktive Sozialforschung“, 2007).
Die Rekonstruktive Sozialforschung fragt nicht nur nach dem Inhalt (dem WAS), sondern interessiert sich vor allem auch dafür, wie Meinungen, Ansichten, Aussagen, etc. zu Stande gekommen sind.

Die Befragten werden in diesem Forschungskontext als ExpertInnen ihrer Erfahrungen angesehen. Die Aufgabe der ForscherInnen liegt darin, die Grundlagen dieser Sinngehalte zu rekonstruieren.

Methodologische Einordnung der Methode

Abbildung 1. Methodologische Einordnung der Dokumentarischen Methode.
Abbildung 1. Methodologische Einordnung der Dokumentarischen Methode.

Zur leichteren Nachvollziehbarkeit soll an dieser Stelle der Einsatz der Dokumentarischen Methode am Beispiel des Gruppendiskussionsverfahrens vorgestellt werden:

Das Gruppendiskussionsverfahren hat in den vergangenen Jahren in der sozialwissenschaftlichen Forschung stark an Bedeutung gewonnen, da mit diesem kollektive Phänomene erfasst werden können, die sich der quantitativen Forschung weitestgehend entziehen würden.

„Das Gruppendiskussionsverfahren fokussiert kollektive Orientierungen, Wissensbestände und Werthaltungen. Seine Einsatzbereiche erstrecken sich von der interkulturellen Forschung, der Jugend-, Generations-, Milieu- und Geschlechterforschung über die Organisations- und Evaluationsforschung und Organisationsberatung bis hin zur Medien- und Kommunikationsforschung“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2008, S. 107).

Die Gruppendiskussion

Bei einer Gruppendiskussion handelt es sich um ein von außen initiiertes Gespräch, das mit einer Realgruppe geführt wird. Realgruppen sind Gruppen, die auch außerhalb der Erhebungssituation als solche existieren – Freunde, Arbeitskollegen, Cliquen oder Personen, die über einen „strukturidenten sozialisationsgeschichtlichen Hintergrund“ (Loos & Schäffer, 2001, S. 13) verfügen – z.B. denselben Beruf ausüben, derselben Generation angehören und den Mauerfall miterlebt haben.

Das Ziel einer Gruppendiskussion ist nicht ein möglichst effizientes Abfragen von Einzelmeinungen, wie dies in der Marktforschung teilweise gemacht wird (man spricht dann von einer Gruppenbefragung), sondern die Initiierung eines möglichst regen Gedankenaustauschs der teilnehmenden Personen zu einem vorgegebenen Thema. Im optimalen Fall nähert sich dieses Gespräch zumindest zeitweise einem normalen Gespräch an. Die Gruppendiskussion sollte also so ablaufen, als ob die Gesprächsleitung überhaupt nicht anwesend wäre. Den Verlauf der Diskussion darf man sich also nicht unbedingt als Diskussion im Sinne eines regen Austauschs von Argumenten vorstellen, sondern eher wie ein Gespräch unter Freunden, in dem „auch biographisch oder handlungsbezogen erzählt, sich gemeinsam erinnert und wechselseitig ergänzt wird“ (vgl. Loos & Schäffer, 2001, S. 13).

Die Durchführung einer Gruppendiskussion
Ort, Zeit & technische Voraussetzungen:

Um den Verlauf der Diskussion positiv zu beeinflussen, sollte ein Ort gewählt werden, an dem sich die TeilnehmerInnen wohl fühlen, der ihnen vielleicht sogar bekannt ist, der aber gleichzeitig nicht zu laut ist, um Störgeräusche und zu starke Ablenkung zu vermeiden. Der optimale Ort für eine Gruppendiskussion ist ein Raum, der weder zu klein noch zu groß ist, der weder stickig, kalt oder zu heiß ist, der kein Durchgangszimmer ist – sprich ein halbwegs gemütlicher, ruhiger Ort, an dem sich die Diskussionsgruppe, um einen Tisch sitzend, auf ihr Gespräch konzentrieren kann, ohne von äußeren Einflüssen allzu stark beeinflusst zu werden.

Die TeilnehmerInnen der Diskussion sollten für diese ausreichend Zeit einplanen – mindestens zweieinhalb Stunden, denn Termindruck oder Stress ist für die Durchführung einer Gruppendiskussion kontraproduktiv.

Aufgezeichnet wird die Diskussion mittels gutem Audiogerät, wobei es hierbei vor allem auf die Qualität des Mikrofons ankommt. Als geeignet haben sich Mini Disc Rekorder oder direkte Aufzeichnungen über den Laptop (z.B. mit dem Programm Audacity) erwiesen. Bei Aufzeichnung auf Mini Disc oder Kassettenrekorder sollten immer genügend Discs bzw. Kassetten mitgebracht werden – denn man weiß im Voraus nie, wie lange eine Diskussion tatsächlich dauern wird! Weiters sollten die Aufnahmegeräte ans Stromnetz angeschlossen werden können, denn Batterien können sich als sehr unzuverlässig herausstellen – zur Sicherheit aber auf jeden Fall auch welche mitnehmen!

Beginn der Diskussion:

In der Eröffnungsphase der Diskussion stellt die Diskussionsleitung sich und ihr Projekt kurz vor – diese einleitenden Worte sind aber wirklich kurz zu halten, da sonst der formelle Charakter des Zusammentreffens zu stark in den Vordergrund gerückt wird. In dieser Phase sollte es bereits vermieden werden, zu detailliert auf Fragen der TeilnehmerInnen einzugehen – allerdings ist es wichtig, ihnen absolute Anonymität zuzusichern und zu erklären, dass die Aufnahme nur für Forschungszwecke gemacht wird, sie niemand außer den ForscherInnen zu hören bekommt und nach der Transkription nicht mehr nachvollziehbar ist, wer was gesagt hat.

Der wichtigste Aspekt der Eröffnungsphase ist die Erklärung des Ablaufs der Diskussion. Es ist wichtig zu betonen, dass die TeilnehmerInnen so miteinander sprechen sollen, wie sie es normalerweise auch tun – „wie sonst auch miteinander reden“. Die Gesprächsleitung selbst muss außerdem erklären, dass ihre Rolle eher im Zuhören besteht und sie sich, abgesehen von der Eingangsfragestellung und gelegentlichen Zwischen- oder Nachfragen, weitestgehend aus der Diskussion heraushalten wird. Der Gruppe ist es auch völlig freigestellt, worüber sie sprechen will – die Diskussionsleitung betont, dass alles, was die Gruppe zu dem Thema zu erzählen hat, wichtig und interessant ist!

Sind alle Fragen und Unsicherheiten aus dem Weg geräumt, schaltet man das Aufnahmegerät ein und stellt die Eingangsfrage – welche besonders offen und demonstrativ vage gehalten werden sollte! Die Eingangsfragestellung sollte das Thema lediglich eingrenzen, nicht aber Wertungen oder Einschränkungen beinhalten.

Während der Diskussion:

„Das oberste Ziel bei der Durchführung einer Gruppendiskussion ist die Herstellung von Selbstläufigkeit“ (Bohnsack, 1989, S. 213), was im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass sich die Diskussion möglichst weitgehend einer normalen Gesprächssituation annähern sollte.

„Mit der Fokussierung auf die Erzeugung von Selbstläufigkeit soll sichergestellt werden, dass sich die Diskussion der gegebenen Gruppe in ihrer Eigenläufigkeit bzw. Eigenstrukturiertheit entfalten kann. Es sollen so die Relevanzsysteme derjenigen zur Sprache kommen, die Gegenstand des Forschungsinteresses sind“ (Loos & Schäffer, 2001, S. 52).

Die Diskussionsleitung gibt im Verlauf und nach der Diskussion folgende Inputs:

Möglichkeiten der Intervention:

Zu Beginn der Diskussion sollten alle Interventionen auf die Herstellung von Selbstläufigkeit gerichtet sein.

Im Verlauf der Diskussion können immanente Nachfragen gestellt werden – diese beziehen sich auf Themen, die von der Gruppe bereits selbst initiiert wurden und sollen ein weiteres Eingehen auf diese Themen in Form von Erzählungen und Beschreibungen fördern.

Grundlagen der Intervention:

Es muss stets die gesamte Gruppe Adressatin der Forscherintervention sein – niemals einzelne Gruppenmitglieder ansprechen!

Sowohl die Themeninitiierung als auch Nachfragen in allen Phasen der Diskussion sollen demonstrativ vage gehalten werden und sich durch eine möglichst unpräzise Fragestellung auszeichnen.

Auf Eingriffe in die Verteilung der Redebeiträge sollte vollständig verzichtet werden.

Wenn die Gruppe von sich aus nichts mehr zum Thema beizutragen hat – sich also ihr immanentes Potential erschöpft hat, kann man zur Phase der exmanenten Fragen übergehen. Diese Fragen beziehen sich auf all jene Aspekte, welche für das Forschungsinteresse relevant sind, von der Gruppe selbst aber nicht angesprochen wurden.

Nach der Diskussion:

Nach Beendigung der Diskussion wird unter den TeilnehmerInnen ein kurzer Fragebogen verteilt, welcher soziodemographische Aspekte und ähnliche interessante Zusatzinformationen erfragt. Weiters sollte nach der Diskussion sobald als möglich ein Kurzprotokoll verfasst werden, auf dem Datum, Codename (zur besseren Erinnerung werden den Gruppen Namen gegeben, die charakteristisch für sie sind) der Gruppe, die Mikrofonpositionen und vor allem die Positionen der TeilnehmerInnen in Relation zu den Mikrofonen eingezeichnet werden.

Bearbeitung des erhobenen Materials

Die Transkription:

Zunächst wird das erhobene und aufgezeichnete Datenmaterial mit Datum und Codename der Gruppe versehen – diese Daten sollten auch auf den nach der Diskussion ausgeteilten Kurzfragebögen zur Erhebung der soziodemographischen Daten der TeilnehmerInnen vermerkt werden, damit es später zu keinen Verwechslungen kommt. Falls nicht sofort transkribiert wird, lohnt es sich auch, die Sitzpositionen der einzelnen TeilnehmerInnen rund um das Mikrophon auf einen Zettel zu zeichnen und eventuelle Merkmale der einzelnen Personen dazu zu vermerken – das hilft bei der späteren Zuordnung.

Früher oder später wird aber auf jeden Fall transkribiert und das bedeutet, dass das aufgezeichnete Datenmaterial zu Papier gebracht wird, was bereits als erster Interpretationsschritt gewertet werden kann. Dieser Schritt beginnt, streng chronologisch gesehen, bereits bei der Auswahl des zu transkribierenden Materials. Eine Auswahl ist aus mehreren Gründen notwendig: Einerseits, weil man es, im Falle einer gelungenen Gruppendiskussion, leicht mit mehrstündigem Audiomaterial zu tun hat, das beim besten Willen nicht vollständig ausgewertet werden kann, zweitens, weil dies auch gar nicht nötig ist, da nur bestimmte Passagen von Interesse für die Forschenden sind. Um einen Überblick über diese Datenflut zu bekommen, wird üblicherweise nach dem ersten Abhören der Bänder ein „thematischer Verlauf“ der Diskussion ausgearbeitet – was nichts anderes bedeutet, als dass man sich notiert, welche Themen zu welchem Zeitpunkt der Diskussion besprochen wurden – der in der Folge darüber entscheidet, was transkribiert und auch interpretiert wird. Interessant sind dabei formale und thematische Gesichtspunkte (siehe dazu Przyborski, 2004).

Formale Gesichtspunkte: Unterscheidet sich eine Passage (= Phase der Behandlung eines Themas; bildet die kleinstmögliche Einheit für Interpretationen) formal vom Rest des Diskurses, ist dies üblicherweise ein Hinweis auf eine fokussierte Stelle im Gespräch. Man spricht in diesem Fall von einer „Fokussierungsmetapher“ (vgl. Bohnsack, Marotzki & Meuser, 2006, S. 67), die eine hohe interaktive und metaphorische Dichte im Vergleich zu anderen Passagen derselben Gruppe aufweist. Intensität kann sich aber auch durch längere Pausen zwischen dem Sprecherwechsel, durch besonders ausführliches Besprechen eines Themas oder den Wechsel der bevorzugten Textsorte ausdrücken. Zusammenfassend kann man sagen, dass die formalen Merkmale eine Art Wegweiser sind, die zu den Passagen führen, die eine hohe Relevanz für die Untersuchten haben, sich diese also in solchen Passagen auf der Basis ihrer gemeinsamen Erfahrungsräume (= konjunktive Erfahrungsräume) verständigen.

Inhaltliche Gesichtspunkte: Nicht nur die Fokussierung ist für das Gelingen der Interpretation wichtig. Wichtig sind auch jene Passagen, die sich auf das Erkenntnisinteresse beziehen und so für die Beantwortung der Forschungsfragen relevant sind. Es müssen also auch all jene Passagen transkribiert werden, welche für das Erkenntnisinteresse relevant sind.

Eingangspassage: Zusätzlich zu den formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten muss auch die Eingangspassage jeder Gruppendiskussion transkribiert werden, da sie einen wichtigen Ansatzpunkt liefert, wie die jeweiligen Gruppen an das Thema herangehen.

Tabelle 1. Richtlinien der Transkription
Tabelle 1. Richtlinien der Transkription

Die formulierende Interpretation:

Bei der formulierenden Interpretation handelt es sich um eine zusammenfassende (Re-) Formulierung des immanenten, also des generalisierenden, allgemein verständlichen Sinngehalts. In diesem Schritt muss sich die interpretierende Person vor allem darauf konzentrieren „was gesagt wird“. Der Inhalt soll also möglichst knapp in einer allgemein verständlichen Sprache wiedergegeben werden. Dies soll es ermöglichen, die thematische Struktur eines Textes, die nicht immer ohne weiteres klar erkenntlich ist, zu erschließen und deutlich zu machen. Der Sinn hinter dieser Reformulierung liegt einerseits darin, sich über den wörtlichen Gehalt des Gesagten klar zu werden. Denn erst, wenn man diesen verstanden hat, kann man daran gehen, ihn zu interpretieren. Zweitens findet damit eine Art Übersetzung des Gesagten statt, die Sprache der Erforschten wird also in Richtung der Sprache der Forschenden überführt. Um diesen Interpretationsschritt überschaubar zu machen, geht man in drei Schritten vor: Im ersten Schritt geht es darum, die zu interpretierende Passage zu benennen, ihr ein Thema zu geben. Dieses Thema soll das übergreifende Thema des vorliegenden Textes oder Abschnitts sein und wird „Thema der Passage“ genannt. Im nächsten Schritt gilt es, Oberthemen (OT) und eventuell Unterthemen (UT) herauszufinden und im Zuge dessen den Inhalt allgemein verständlich wiederzugeben. Diese drei Schritte führen zu einer Feingliederung des Textes, wie zu einer zusammenfassenden Formulierung des wörtlichen Gehalts. Zu beachten ist dabei, dass man sich immer an die vorgegebene Erzählstruktur der Erforschten hält und nicht versucht, die Äußerungen in einen dem Forschenden vielleicht logischer erscheinenden Ablauf zu betten. Manchmal ist es den ForscherInnenn auf der Ebene des immanenten Sinns einfach nicht oder nur schwer möglich, bestimmte Aussagen zu reformulieren – in solchen Fällen fließen diese als wörtliche Zitate in die formulierende Interpretation ein.

Die reflektierende Interpretation:

Bei der reflektierenden Interpretation geht es nun um die Herausarbeitung des dokumentarischen Sinngehalts. Hier wird nicht mehr danach gesucht, was gesagt wurde, sondern danach, was sich über den Fall zeigt. Die Interpreten stellen sich selbst die Fragen: „Was zeigt sich hier über den Fall? Welche Bestrebungen und / oder welche Abgrenzungen sind in den Äußerungen, den Diskursbewegungen beinhaltet? Welches Prinzip, welcher Sinngehalt kann eine derartige Äußerung motivieren, hervorbringen? (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2008, S. 289) Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass der Forschende hier versucht, eine Antwort auf die Frage zu bekommen: Was dokumentiert sich in dem, wie etwas gesagt wird? Und das im Hinblick auf konjunktive Erfahrungsräume und die kollektive Handlungspraxis einer Gruppe.

In einem Diskurs ist meist mehr als nur ein Erfahrungsraum anzutreffen, vielmehr kommt es sogar zu Überschneidungen unterschiedlicher Erfahrungsräume, wie zum Beispiel milieu-, generations-, geschlechts- und entwicklungsspezifische Erfahrungen. Dennoch ist es so, dass meist tatsächlich nur einer dieser unterschiedlichen Erfahrungsräume den übergreifenden, kollektiv geteilten Orientierungsrahmen einer Gruppe darstellt. Festmachen kann man diesen Orientierungsrahmen mit Hilfe der so genannten positiven und negativen (Gegen-)Horizonte, sowie durch ein mögliches Enaktierungspotential (vgl. Bohnsack, 1989, S. 28). Der positive Horizont beschreibt dabei soziale und / oder biographische Sachverhalte, mit denen sich die Gruppe identifizieren kann. Es geht aber auch um positive Ideale, die eine Richtung anzeigen, auf die eine Orientierung zustrebt. Der negative Gegenhorizont steht für Sachverhalte, Richtungen, Entwicklungen oder Ausgänge, welche die Gruppe kollektiv ablehnt. Das dritte Strukturmerkmal, das Enaktierungspotential, beschreibt die Einschätzung der Realisierungsmöglichkeit aus Sicht der Gruppe (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2008, S. 290).

Wie oben bereits erklärt, ist es das Ziel dieses Interpretationsschrittes, Orientierungen und Habitus einer Gruppe zu rekonstruieren. Dabei beschreiben Orientierungen Sinnmuster, die unterschiedliche Handlungen strukturieren und hervorbringen.

„Diese Sinnmuster sind in die Handlungen eingelassen und begrifflich - theoretisch nicht gefasst. Sind z.B. in der Metaphorik von Erzählungen und Beschreibungen und von performatorischen Inszenierungen, z.B. der Art und Weise, wie miteinander und mit den Untersuchenden umgegangen wird, gegeben. Diejenigen, denen Orientierungen, auf der Grundlage des gemeinsamen Erfahrungsraumes gemeinsam sind, beziehen sich unmittelbar und selbstverständlich darauf, sie verstehen einander ohne einander zu interpretieren. Die Grundlage dieses Verständnisses wird in diesem Interpretationsschritt geleistet.“ (Przyborski, 2004, S. 55).

Exkurs: Der Dreischritt als diskursive Einheit im Hinblick auf die Form der Sozialität:

Wenn man feststellen will, in welcher Weise ein Orientierungsgehalt unter den interagierenden Personen geteilt wird, müssen mindestens drei Sinneinheiten beachtet werden. Bei diesen drei Sinneinheiten handelt es sich um:

Proposition: Hier wird ein Orientierungsgehalt aufgeworfen.

Validierung, Elaboration: Bestätigung des Orientierungsgehalts bzw. weitere Bestätigung oder Ausführung des aufgeworfenen Orientierungsgehalts in Form von Argumenten oder Beispielen.

Konklusion: Abschließende Diskursbewegung, in der sich die Gruppe darüber verständigt, dass niemand mehr etwas dazu zu sagen hat.

„Um den Orientierungsgehalt herausarbeiten zu können, gilt es das ‚Wie’ der Kommunikation in zweifacher Weise zu betrachten:

  • Wie werden die Inhalte vorgebracht, gestaltet? Diese Ebene, die Performanz, erlangt zentrale Bedeutung, um
  • festzustellen, wie sich die semantische Bezugnahme auf der Ebene des Dokumentsinns entfaltet“ (Przyborski, 2004, S. 61).

Kurz gesagt geht es um die Frage, in welchem formalen Bezug der semantische Gehalt zu den einzelnen Äußerungszügen steht. Um diesen Schritt erfolgreich zu bewerkstelligen, bzw. diese Frage erfolgreich beantworten zu können, bedienen sich die Untersuchenden eines Begriffsinventars, das sich im Laufe der Zeit und den gesammelten Erfahrungen immer erweitert hat. Eine ausführliche Darstellung dieses Begriffsinventars findet sich in Przyborski (2004, S. 61–76). Folgende kurze Ausführung bezieht sich ebenfalls auf dieses Werk:

Exkurs: Das Begriffsinventar zur
Diskursorganisation

Proposition: Hierbei handelt es sich um die Stellungnahme zu einem Thema, in der eine Orientierung zum Ausdruck gebracht wird. Bei der reflektierenden Interpretation wird der Begriff dann verwendet, wenn ein Orientierungsgehalt in eine Passage zum ersten Mal aufgeworfen wird.

Elaboration: Von einer Elaboration wird gesprochen, wenn ein Orientierungsgehalt weiter verarbeitet wird. Diese Weiterverarbeitung kann auf unterschiedliche Weisen stattfinden, z.B. auf argumentativer Ebene (= Elaboration im Modus einer Argumentation) oder auf beschreibender, erzählender Ebene (= Elaboration im Modus einer Exemplifizierung). Elaborationen beziehen sich nicht zwangsläufig nur auf Propositionen, auch Differenzierungen, Oppositionen oder Antithesen können elaboriert werden.

Differenzierung: Eine Differenzierung liegt dann vor, wenn der propositionale Gehalt einer Aussage ergänzt, eingeschränkt, spezifiziert oder modifiziert wird.

Validierung: Als Validierungen gelten all jene Äußerungen, die aufgeworfene Propositionen bestätigen, wie zum Beispiel „ja“, „genau“, „das stimmt“, „find ich auch“, etc. Ein weiteres Kennzeichen einer Validierung besteht darin, dass genau erkenntlich sein muss, dass sie mit dem Orientierungsgehalt des Interaktionszuges übereinstimmt.

Ratifizierung: Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine Bestätigung, allerdings nur auf der Ebene des immanenten Sinngehalts, sie bezieht sich nicht auf den Dokumentsinn.

Antithese und Synthese: Man kann davon ausgehen, dass eine Antithese vorliegt, wenn ein gegensätzlicher Orientierungsgehalt aufgeworfen wird, wie zum Beispiel „ja, aber …“, oder wenn eine Proposition verneint wird. Ob es sich bei dieser Bezugnahme um eine Antithese oder doch um eine Opposition handelt, kann erst am Ende des Interaktionszuges festgestellt werden. Nämlich dann, wenn man die Auflösung der entgegenstehenden Gehalte betrachtet, also die Beendigung eines Themas. Kommt es nämlich zu einer Synthese (entspricht meist einer Konklusion am Ende der Passage) der zunächst entgegenstehenden Orientierungsgehalte, dann fällt die Bezeichnung Antithese zu recht. Diese kann ebenfalls wieder validiert, elaboriert und differenziert werden.

Opposition: Hierbei handelt es sich um einen ersten Entwurf einer Orientierung, die mit der vorangegangenen nicht vereinbar ist. Tauchen derartige Widersprüche in einer Gruppe auf, kann man davon sprechen, dass sie in diesem Zusammenhang keinen gemeinsamen Orientierungsrahmen hat. Unauflösbare Widersprüche sind dann gegeben, wenn es zu keiner gemeinsamen, konsensfähigen thematischen Konklusion kommt. Themen werden hier rituell beendet, es kommt also im Gegensatz zu antithetischen Bezugnahmen zu keiner Synthese der unterschiedlichen Orientierungsgehalte.

Divergenz: Sie kann als das Aufwerfen eines zu einer Proposition, zu einer Elaboration einer Proposition usw. eines widersprüchlichen Orientierungsrahmens unter Einbeziehung von Elementen aus jenen Diskursbewegungen, denen sie entgegensteht, beschrieben werden. Während eine Opposition meist deutlich zu erkennen ist, da die Themen durch einen Widerspruch häufig wechseln, bleiben die GesprächsteilnehmerInnen in einem divergenten Diskurs beim Thema. Es werden immer wieder Elemente der anderen DiskutantInnen aufgegriffen und in den jeweils anderen Orientierungsrahmen gesetzt, was den Anschein erweckt, als würden sie sich aufeinander beziehen. Das tun sie im Hinblick auf den Orientierungsgehalt aber nicht, vielmehr reden sie aneinander vorbei. Typische Konklusionen von solch divergenten Diskursen scheinen rituelle Synthesen zu sein. Dabei werden die widerstreitenden Orientierungen zum Beispiel an einen anderen Schauplatz verlegt und dort in einer dritten Orientierung vereint. Die unterschiedlichen Orientierungen in der strittigen Frage bleiben somit aber bestehen.

Konklusion: Diese finden sich üblicherweise am Ende eines Themas und bei der Beendigung einer Darlegung eines Orientierungsgehaltes. Es lassen sich, je nach ihrem Verhältnis zum Orientierungsgehalt, zwei Arten von Konklusionen unterscheiden: ‚echte Konklusionen’, in denen die Orientierung abschließend aufscheint und ‚rituelle Konklusionen’, die einen Themenwechsel erzwingen. Konklusionen haben oft sehr augenmerkliche performatorische Kennzeichen, wie zum Beispiel mehrfache Wiederholungen. Weiters folgen auf sie oft längere Pausen (2-3 Sekunden).

Exkurs: Typen der Diskursorganisation

Nach Loos und Schäffer (2001, S. 69f.) lassen sich idealtypisch drei Formen der Diskursorganisation unterscheiden, die ihrerseits wieder Aufschlüsse über die innere Verfasstheit der jeweiligen Gruppe zulassen:

Oppositionelle Diskursorganisation: Diese liegt dann vor, wenn Rahmeninkongruenzen auftreten, die im Verlauf des Diskurses von den TeilnehmerInnen nicht in einen kollektiv geteilten Orientierungsrahmen überführt werden können. Die oppositionelle Qualität derartiger Diskurse zeigt sich darin, dass eine Gruppe von Personen innerhalb einer vermeintlichen Realgruppe versucht, den anderen ihre Themen oder auch ihren Stil der Auseinandersetzung aufzudrängen. Je nach Milieu kann dies zu einem Streit, zu Diskussionsabbruch einer Partei durch Absentierung oder zur Dominanz einer der Seiten führen.

Konkurrierende bzw. antithetische Diskursorganisation: Hier liegt im Gegensatz zur oppositionellen Diskursorganisation keine Rahmeninkongruenz vor. Vielmehr geht es darum, wer den gemeinsam geteilten Rahmen am besten ausdrücken kann und gegebenenfalls eine von allen akzeptierte Konklusion formuliert.

Parallelisierende Diskursorganisation: Sie bildet den Gegensatz zur konkurrierenden Diskursorganisation. Man kann sie in gewisser Weise als Vermeidung eines offen propositional geleiteten Diskurses beschreiben, bei dem jemand seine Meinung offenbart und sich danach mit den anderen über das für einen Beobachter klar erkennbare Thema unterhält. Eine parallelisierende Diskursorganisation besteht vielmehr aus einer Aneinanderreihung von schildernden Beispielen. Dem Beobachter fällt es hier oft schwer, den Zusammenhang des geführten Gesprächs nachvollziehen zu können. Beispiele werden aneinander gereiht, ohne dass jemals klar ausgesprochen wird, was eigentlich Sache ist. Die oft nicht leichte Aufgabe des Interpreten besteht darin, einen thematischen Schlüssel zu finden. Also eine übergeordnete Thematik, die alle Beispiele miteinander verbindet.

Exkurs: Die Fokussierungsmetapher

Während der reflektierenden Interpretation muss besonderes Augenmerk auf die Auffindung und Interpretation der sogenannten Fokussierungsmetapher gelegt werden. Formal betrachtet erkennt man diese daran, dass sie eine hohe metaphorische und interaktive Dichte aufweist – sprich, dass die Diskussion zu diesem Zeitpunkt besonders lebhaft und engagiert abläuft.

„Inhaltlich verstehen wir unter einer Fokussierungsmetapher eine Textstelle, in der der übergreifende Orientierungsrahmen einer Gruppe zum Ausdruck gebracht wird. An diesen Fokussierungsmetaphern kann dann sozusagen das zentrale ‚Problem’ der jeweiligen Gruppe, das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit abgelesen werden“ (Loos & Schäffer, 2001, S. 70).

Die Diskursbeschreibung (auch: Falldarstellung, Fallbeschreibung):

Nach der reflektierenden Interpretation wird der jeweilige Fall – also die jeweilige Gruppendiskussion im Rahmen einer Diskursbeschreibung, genau rekonstruiert. Das bedeutet, dass die gesamte Diskussion im Sinne einer Fallbeschreibung dargestellt wird. Die Gesamtgestalt des Falles soll hierbei zusammenfassend charakterisiert werden, was vor allem die Aufgabe der vermittelnden Darstellung, Zusammenfassung und Verdichtung der Ergebnisse im Zuge ihrer Veröffentlichung hat (vgl. Bohnsack, 2008, S. 138). Zur Diskursbeschreibung zählen eine zusammenfassende Darstellung der zentralen Rahmenkomponenten der Gruppe, die Entwicklung der Dramaturgie des Diskurses, sowie ein Überblick über die vorherrschende Diskursorganisation. Auch die Fokussierungsmetaphern, ebenso wie die positiven Horizonte, die negativen Gegenhorizonte und die Enaktierung sollten in ihr berücksichtigt werden. In der Diskursbeschreibung werden die zentralen Rahmenkomponenten mittels ausführlicher Zitate belegt (vgl. Bohnsack, Marotzki & Meuser, 2006, S. 79).

Die komparative Analyse & Typenbildung:

Bei der komparativen Analyse handelt es sich laut Loos & Schäffer (2001, S. 71) „um einen weiteren wichtigen Schritt, der sich im Forschungsprozess nicht eindeutig verorten lässt, sondern ständig mitläuft.“ Es handelt sich bei der komparativen Analyse also um keine eigenständige Methode, sondern um etwas, das sich mehr oder weniger im Kopf und am Block der InterpretInnen abspielt, aber keinen Eingang in die Arbeit finden muss. Inhaltlich geht es darum, „von den jeweiligen Einzelfällen zu abstrahieren und den Blick auf die sie konstituierenden existentiellen Hintergründe zu lenken“ (Loos & Schäffer, 2001, S. 71). Die einzelnen Fälle repräsentieren Typen, die sich lediglich nach den verschiedenen Dimensionen des existentiellen Hintergrundes unterscheiden. Genau diese Dimensionen kommen auch bei der Vergleichsgruppenbildung zum Einsatz. Laut Loos & Schäffer (2001, S. 71) folgt die Typenbildung dem Modell des Idealtypus nach Weber (1968, S. 191):

Der Idealtypus (entsprechend der jeweiligen zugrunde gelegten Dimension des konjunktiven Erfahrungsraumes) „wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger und durch den Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankengebilde nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht.“

Bei der Typenbildung handelt es sich nicht um eine „Typisierung der Ergebnisse im Sinne einer Zusammenfassung und Kategorisierung von Aussagen und deren Interpretation, sondern sie richtet sich nach den der komparativen Analyse zugrundeliegenden Dimensionen des existentiellen Hintergrundes (grundlegend: milieu-, generations- und entwicklungsphasenspezifische Zugehörigkeiten und die Geschlechtszugehörigkeit), aus denen heraus sie die einzelnen Fälle, repräsentiert jeweils durch die verschiedenen Gruppen, erklärt“ (Loos & Schäffer, 2001, S. 71).

Literatur

Bohnsack, R. (1989). Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen. Opladen: Leske+Budrich.

Bohnsack, R. (2000). Rekonstruktive Sozialforschung. 4. Auflage. Opladen: Leske+Budrich.

Bohnsack, R., Marotzki, W. & Meuser, M. (Hrsg.) (2006). Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. 2. Auflage. Opladen und Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Bohnsack, R., Przyborski, A. & Schäffer, B. (Hrsg.) (2006). Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis. Opladen: Verlag Barbara.

Garfinkel, H. (1984): Studies in ethnomethodology. Cambridge: Polity Press.

Loos, P. & Schäffer B. (2001). Das Gruppendiskussionsverfahren. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungen. Opladen: Leske+Budrich.

Mannheim, K. (Verfasser), von Kettler, D., Meja, V. & Stehr, N. (Hrsg.) (1980): Strukturen des Denkens. Frankfurt: Suhrkamp Verlag.

Przyborski, A. (2004): Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2008). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenburg Verlag.

Weber, M. (1968): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von J. Winckelmann, Tübingen, 4. Auflage. Nach: Loos & Schäffer (2001, S. 71).

 

Diesen Artikel zitieren als:
Granzner-Stuhr, S. (2014). Zur Rekonstruktion der Handlungspraxis. Dokumentarische Methode und Gruppendiskussion. ARGE Forschungsjournal, 2014/01.

 

 

 

Autor

Mag.a Dr.in Stefanie Granzner-Stuhr, M.A.; Mediatorin, Kommunikationswissenschaftlerin; Univ.-Ass.in an der SFU Wien - Department für Psychologie/Institut ARGE Bildungsmanagement
E-Mail: stefanie.granznerⒶsfu.ac.at

 

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