Elisabeth Brousek - Rezension: Hans Werbik und Gerhard Benetka (2016). Kritik der Neuropsychologie. EIne Streitschrift.

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2017/01
ISSN 2312–5853

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Elisabeth Brousek 1,◊

Rezension
Hans Werbik & Gerhard Benetka (2016). Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift.*

1 MAG ELF - Amt für Jugend und Familie der Stadt Wien, Fortbildung, Forschung und Entwicklung

Korrespondenz über diesen Artikel ist zu richten an Mag.a Elisabeth Brousek, Rüdengasse 11, 1030 Wien, Österreich. E-Mail: elisabeth.brousekⒶwien.gv.at

Wie verschafft man sich als BeraterIn Aufmerksamkeit, Professionalität und Bewunderung von KollegInnen und KlientInnen? Verweisen Sie auf das Corpus Callosum, nennen sie die Amygdala und ein gefährliches Neurotransmitter- Ungleichgewicht. Schließlich fügen Sie mit ernster Miene hinzu: „Der Körper lügt nicht!“ (S.39). Dieses Buch zeigt nicht nur den hohen Preis („Verelendung der Psychologie“, S. 9) und die Gefahren „Biopolitik“ (S.13), „Beherrschung der Natur“, „Herrschaftsinteressen“ (S. 114), die mit dieser Haltung einhergehen, sondern versucht auch eine „Gegenbewegung“ (S. 14) wissenschaftstheoretisch zu begründen.
Das Kapitel „Der Traum vom objektiven Blick ins Erleben“ (S. 17) zeigt, dass der Versuch über die physiologischen Vorgänge einen Zugang zum Erleben, Denken, Fühlen und Handeln von Menschen zu gewinnen, so alt wie die Psychologie selbst ist. Eine komprimierte und anspruchsvolle Reise durch die Ideengeschichte der Psychologie mit Fechner, Mach und Wundt führt die LeserInnen an die „Kernthese“ (S. 20) des Buches: Der neuropsychologischen Forschung mangelt es „an philosophischer Besinnung“ und an „historischem Bewusstsein“ (ebd.).
Das Kapitel über das Leib-Seele-Problem diskutiert die „meist implizit“ (S. 21) bleibenden „Vorentscheidungen“ wissenschaftlicher Untersuchungen.
Das Kapitel „Reduktionismus“ (S. 31) zeigt, dass bei dem Versuch „psychische Phänomene eindeutig auf neurologische Prozesse und diese wieder auf physikalische bzw. chemische Ereignisse zurückzuführen“ (ebd.) grundlegende logische Fehlschlüsse in den Neurowissenschaften vorliegen.
Kapitel 5 geht schließlich auf die Forschungsmethoden ein, zunächst wieder mit einem historischen Rückblick (Berger, Rohracher, Guttmann). Es folgt die (funktionale) Magnetresonanz-tomographie mit ihren dreidimensionalen bunten Bildern und einer methodischen Kritik insbesondere am BOLD-Signal. Bei Befunden aus der „Läsionsforschung“ (S. 53) werden falsche Falldarstellungen nachgewiesen und gezeigt, dass Ergebnisse in die gewünschte Richtung manipuliert wurden.
Die Anmaßungen prominenter Hirnforscher den freien Willen des Menschen als Illusion zu erklären, wird im Kapitel über „Willensfreiheit“ (S. 59) bearbeitet, hierbei wird das Libet-Experiment (Großhirnaktivitäten sind bereits vor der Handlung und der damit verbundenen Entscheidung nachweisbar) und seine Abwandlungen ausführlich diskutiert.
Die Frage, ob die „Gültigkeit der Psychoanalyse über hirnwissenschaftliche Forschung festgestellt“ (S. 86) werden kann, wird wieder wissenschaftstheoretisch abgehandelt und verneint.
Das Kapitel 8 „Zur gesellschaftlichen Funktion der Neurowissenschaften“ (S. 89) zeigt Gemeinsamkeiten zwischen den Neurowissenschaften und dem Behaviorismus auf. Eindrucksvoll zeigen die Autoren, dass Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth und Wolf Singer die „Schuldfähigkeit“ (S. 90) von Menschen in Frage stellen und gerade mittels „Entschuldung“ Menschen wie Maschinen behandeln und ihnen die „Würde“ (ebd.) nehmen. Die gesellschaftliche Funktion liegt im Trost: „Nicht ich bin verantwortlich“, sondern „das Gehirn“ (S. 91).
Im Ausblick werden durch „die Nichtreduzierbarkeit der Perspektive der ersten Person“ (S. 99) die Grenzen einer sich als Naturwissenschaft verstehenden Psychologie aufgezeigt. Psychologie wird jenseits einer „Variablenpsychologie“ (S. 102) als Kulturwissenschaft etabliert. Es geht um „Alltagspraxis von Menschen“ (S. 106), um Sinn und Verstehen. Die wertvolle Übersicht über kulturpsychologische Ansätze übergeht allerdings meines Erachtens völlig, dass gerade die Begriffe Alltag, Sinn und Verstehen von der Soziologie (u.a. Symbolischer Interaktionismus und der Ethnomethodologie) intensiv ausgearbeitet wurden.
Das letzte Kapitel fasst die Ziele der Streitschrift zusammen. „Die drohende Auslöschung der Psychologie“ (S. 113), sowie „die Anbiederung an die Neurowissenschaften“ (S. 114) kann nur durch Theoriebildung und ein „emanzipatorisches Interesse“ verhindert werden. „Die wissenschaftliche Psychologie soll zu einer Entwicklung einer Kultur des mitmenschlichen Umgangs“ beitragen und zwar „nicht nur durch ihre Resultate … sondern auch dadurch wie sie diese Forschung ausführt: als Dialog zwischen Forscher und Forschungspartnern“ (ebd.).
Die Streitschrift von Hans Werbik und Gerhard Benetka ist anspruchsvoll, feurig und schon lange so dringend nötig. Sie bietet viele Orientierungschancen für gute und mutige Forschung und Psychologie. Ich habe das Buch mit Aufregung gelesen, als hätte ich es schon so lange vermisst. Ich empfehle es aus vollem Herzen, auch wenn ich eine geschlechtssensible Sprache (Forscher, Neuropsychologen, …) schmerzlich vermisst habe: Tun sie sich bitte diese anspruchsvollen 115 Seiten an! 

Literatur

Werbik, H. & Benetka, G. (2016). Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift. Psychosozial Verlag: Gießen.

Eingegangen: 18. Dezember 2016
Peer Review: 27. Jänner 2017
Angenommen: 16. Februar 2017

 

Diesen Artikel zitieren als:
Brousek, E. (2017). „Rezension: Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift." Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, 3, 100-101.

 

Autorin

Mag.a Elisabeth Brousek; stellvertretende Leiterin der Fortbildung, Forschung & Entwicklung, Amt für Jugend und Familie, Wien; Arbeitsschwerpunkte sind qualitative Forschungsmethoden, Pflegekinder, Perspektive von Kindern in Wohngemeinschaften, Geschichte der Psychologie und der Jugendwohlfahrt; Lehre am Universitätsinstitut ARGE Bildungsmanagement.elisabeth.brousekⒶwien.gv.at

 

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