Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2019/01
ISSN 2312–5853
Full Text: Artikel als PDF
Felix de Mendelssohn1 in Zusammenarbeit mit Anna Mendelssohn 2 *
Zusammenfassung
Der Artikel beleuchtet zunächst unterschiedliche soziale Funktionen des Tratsches, deren Wert und Bedeutung in einer Gesellschaft, wie etwa Lustgewinn, Ventil oder Kontrolle. Er befasst sich mit dem Verhältnis von Tratsch zu Sexualität, Macht und Selbstwertgefühl und untersucht die psychologischen Triebfedern, welche einen einfachen Klatsch, zu einem Gerücht, einer Verleumdung oder auch einem Mythos werden lassen können. Schließlich reflektiert der Artikel auch mögliche Beweggründe warum Psychoanalytiker selbst dazu verleitet werden können, über ihre Kollegen oder sogar Patienten zu tratschen.
Abstract
The article sets out by highlighting various social functions of gossip within a society, it’s use and significance, such as pleasure, release and control. It addresses the relationship between gossip, sexuality, power and self-esteem and examines the psychological incentives, which can turn a simple hearsay into a rumour, a slander, or even a myth. Finally the article also reflects on possible motives, why psychoanalysts themselves may be tempted to gossip, about their colleagues or even clients.
Keywords: Tratsch, Verschwiegenheit, Verleumdung
1 Psychoanalytiker, Gruppenanalytiker (*1944, †2016), unterrichtete an der Sigmund Freud PrivatUniversität
2 In Zusammenarbeit mit Anna Mendelssohn
* Korrespondenz über diesen Artikel ist zu richten an Anna Mendelssohn, Email: amenⒶklingt.org
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Zunächst die sicher berechtigte Frage: warum dieses Thema? Was hat meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt? Die Antwort ist einfach zu geben. Im letzten Jahr war ich, oder habe ich mich, in der praktischen Arbeit einige Male darin verwickelt, zum einen als Objekt des Tratsches, zum anderen als das Subjekt, das ihn verbreiten möchte. Im letzten Fall konnte ich mich meistens, aber nicht immer, im letzten Moment vor der Ausführung des Impulses zurückhalten; das Erlebnis bei solchen Anlässen war immer ein peinliches gewesen, und ich fand mich daher genötigt, genauer hinzuschauen, was wohl die ausschlaggebenden Faktoren dafür sein könnten.
Es wird natürlich vonnöten sein, hier zunächst einiges über den Tratsch im Allgemeinen zu sagen und über die Mechanismen, die dabei in Funktion kommen. Aber das eigentliche Thema soll der psychoanalytische Tratsch sein, den ich grob in zwei Kategorien einteile: in den Tratsch über Psychoanalytiker, den entweder Patienten oder analytische Kollegen verbreiten, und in den Tratsch, der entstehen kann, wenn Analytiker über ihre Patienten reden.
Die Bewertungen des Klatsches sind unterschiedlichster Natur. Häufig kommt die ironisch-entschuldigende Bewertung vor, die Oscar Wilde psychologisch am trefflichsten formuliert hat: Tratsch sei nur das zweitschlimmste Übel, am schlimmsten sei es, wenn überhaupt niemand über einen rede. Dem entgegengesetzt ist die ethische Verurteilung, wie sie uns im Alten wie im Neuen Testament begegnet und auch von Konfuzius ausgearbeitet wird. „Der Edle verbreitet keine Gerüchte, er bringt die Leute nicht wegen ihrer Reden in Verlegenheit. Seine Worte haben immer einen Kern, seine Handlungen haben immer ein Vorbild. Der Gemeine gerät oft durch ein einziges Wort für sein ganzes Leben in Schuld.“ Und zum Empfänger des Tratsches: „Wenn andere etwas böses sagen und man widerspricht nicht, so ist es beinahe, wie wenn man an ihren Worten Gefallen fände. Wenn man an ihren Worten Gefallen findet, so ist zu fürchten, dass man sich ihnen persönlich nahe fühlt. Wenn zu fürchten ist, dass man sich ihnen persönlich nahe fühlt, so ist zu fürchten, dass man es selber auch so macht.“
Wo das ethische Moment sich an den Charakter des Individuums wendet, ist die genuin als kritisch zu bezeichnende Wertung jene, die auch die sozialen Funktionen des Tratsches in Betracht zieht. So bei Ernst Bloch, wenn er über Tratscherei im Mietshaus schreibt: „Aus diesem kriechen die Würmer jeden Tag; sie kommen aus dem Mehl, das fehlt, aus den geliehenen Töpfen, aus der vielen Sitte, die dazu dient, sie verletzt zu haben. Klatsch kriecht die Treppen auf und ab, hält diese Menschen zusammen, indem er sie trennt. Er ist die schiefe Art, unzufrieden zu sein, die falsch adressierte, die Lust zu kämpfen, ohne sich dem Gegner zu stellen.“ Hier werden zwei Dimensionen des Tratsches sorgsam verknüpft, die psychologische Bedeutung von Ressentiments bei seiner Entstehung und der unübersehbarer Bezug zur sozialen Kontrolle der Gemeinschaft. Lapidar vermerkt dazu Christian Morgenstern: „Klatsch ist die Unterhaltung von Polizisten ohne Exekutivgewalt.“
Eine im Wesentlichen nachsichtige Bewertung finden wir hingegen beim deutschen Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seiner kleinen Gelegenheitsschrift „Kurze Apologie des Klatsches“. Ich zitiere davon einen kurzen Auszug:
„Mag der Klatsch lästig sein, zuweilen gefährlich giftig, wo er sich bis zum „Rufmord“ steigert: Er ist ein Ventil, das die Menschen in den Fesseln ihrer Gesellschaft nicht entbehren können und das noch Schlimmeres, das große Vorurteilsunisono, verhütet. Zudem ist daran zu erinnern, dass es auch den idealisierenden Klatsch gibt, den, der aus einer kollektiven Verliebtheit entspringt und sie fördert. Auch er ist nicht nur auf Mädchenpensionate beschränkt; weltweit stehen auch ihm beflissene Multiplikatoren zu Verfügung. (...) Am üppgisten gedeiht das aggressive Klatschbedürfnis in engen Gruppen mit hoher wechselseitiger Kontrollmöglichkeit für das Einhalten der Regeln, in (...) Sekten, Orden, Büros der Verwaltungen (...) die Intensität der Beteiligung geht parallel zu der eigenen affektiven Frustrierung, der die Gruppe als ganze nicht zu entgehen vermag und die sie sich nicht eingesteht. Vielmehr ist emsiges Klatschen das Mittel, ein wenig das Elend der Welt, in der man lebt, zu vergessen. Die Macht des Ohnmächtigen ist die üble Nachrede. (...) Da wir alle gern klatschen, offenbart sich darin unsere Neigung, die vernünftigeren Formen unseres Zusammenlebens regressiv zugunsten primitiver Genüsse aufzugeben. Und da wir am Klatsch so viel Freude haben, ist es fraglich, ob wir überhaupt so erwachsen sein wollen, dass wir auf ihn ganz verzichten möchten; zuviel Vergnügen ginge dabei verloren.“
Man würde meinen, dass sich hier für den empirischen Sozialforscher ein breites Feld eröffnen würde, aber mir sind kaum Untersuchungen dieser Art bekannt. Klaus Thiele-Dohrmann hat in seiner Abhandlung „Der Charme des Indiskreten“ eine kleine Befragung zitiert, die sich spezifisch mit der Lust am Tratsch beschäftigte. Die Antworten darauf zerfielen in drei Gruppen.
1) die zahlenmäßig größte Gruppe gibt ohne Umstände zu, dass sie Lust am Klatsch empfindet, ohne jedoch eine moralische Wertung des Klatsches vorzunehmen. Die oft heiter-provokant anmutende Art des Eingeständnisses wirkt wie eine Flucht nach vorn, vielleicht in der Annahme, dass es keinen Zweck habe zu leugnen, weil man ohnehin dabei überrascht wird, vielleicht aber auch, weil man sich, in dem Bewußtsein, einer unübersehbaren großen Klatschgemeinschaft anzugehören, ein offenes Geständnis glaubt leisten zu können.
2) die zweite Gruppe beantwortet der Frage nach dem Lust am Klatsch etwas zögernd. Vorsichtig geben sie zu, man könne sich dem Klatsch ja nie ganz entziehen und man lese gelegentlich aus Langeweile im Wartezimmer des Arztes oder beim Friseur die Klatschberichte. In dieser Gruppe macht sich ein leiser Widerstand gegen die Klatschkommunikation bemerkbar, ein Schamgefühl wegen des Interesses an Indiskretionen und ein Unbehagen darüber, möglicherweise als „oberflächlich“ eingestuft zu werden.
3) die kleinste Gruppe bestreitet vehement jede Klatschlust oder behauptet zumindest, für Tratsch kein Ohr zu haben.
Untersuchungen belegen ferner, dass die Reizthemen für das Tratschen in erster Linie Sexualität und Macht sind. Das Objekt des Tratsches wird wegen seines Liebeslebens und seines Verhältnisses zur Macht belächelt, betuschelt, verleumdet oder denunziert. Ein hoffentlich relativ harmloses Beispiel: Eine Patientin erzählt mir folgenden Tratsch über mich, den sie übrigens hier in diesem Raum erfahren hat. Ich hätte ein amouröses Verhältnis mit der Ehefrau eines Universitätsprofessors gehabt: dieser Professor habe mich dann eines Tages in flagranti im Bett mit seiner Gattin ertappt. Leider ist die Geschichte unwahr, glaube ich zumindest, denn in solchen Momenten wird man etwas irre und die Macht des Lustprinzips will einen dazu überreden, man möge etwas dergleichen doch verdrängt haben. Aber ich komme auf nichts in der Realität, höchstens dass ich einige Wochen vorher in einem öffentlichen Vortrag über Arnold Schönberg recht eindrucksvoll die Szene beschrieben hatte, wo Schönberg seine Frau im Bett mit dem Maler Richard Gerstl ertappte. Übrigens hatte ich an dieser Stelle des Vortrags ein peinliches Gefühl: obwohl mir die Szene, als eine besondere Abwandlung der Urszene für meine wissenschaftliche Argumentation unentbehrlich erschien, hatte ich doch das Gefühl auf unnötig aufdringliche Weise doch einen Stück intimen Tratsches weiterzugeben.
Wenn der Tratsch eine gewisse Stärke und Verbreitung erlangt hat, erhält er dann den Status eines Gerüchts. Gelegentlich, wie wir noch sehen werden, kann sich das Gerücht sogar noch zu einer Art Mythos entwickeln, der von Massenhysterie getragen wird. Nirgends findet vielleicht die unheilvolle Verquickung von Sexualität und Macht so ausgeprägt statt, wie beim sexuellen Kindesmissbrauch. Wer solcherart traumatisierte Patienten behandelt hat, weiß von ihren affektiv extrem ambivalenten Einstellung zu Vertraulichkeit und Diskretion. Auf der einen Seite fürchten sie nichts so sehr als das Gerede und die damit verbundene Beschämung. Viele von ihnen kommen noch dazu aus abgeschotteten Familiensystemen, wo möglichst wenig nach außen dringen durfte. Andererseits hegen sie mehr oder weniger bewusste Neigungen zur öffentlichen Anklage, zur Rache in der öffentlichen Beschämung der Täter, und versuchen oft den Analytiker als Helfer bei dieser agierten Denunziation einzuspannen.
Aber nicht nur die Opfer, auch die Öffentlichkeit reagiert hier höchst ambivalent, zwischen Vertuschung und Hexenjagd oszillierend. In den Orkney-Inseln in Großbritannien herrscht seit 5 Jahren eine seltsame Atmosphäre. Damals kamen angebliche Berichte von Kindern auf, die in ihren Familien rituellen sexuellen Missbräuchen ausgesetzt waren. Ein Sondertrupp von Sozialarbeitern des Jugendamtes nahm innerhalb weniger Tage neun Kindern aus einem „Ring“ von daran beteiligten Familien und plazierte sie in Therapieheimen, wo ihnen jeglicher Kontakt mit den Eltern verboten wurde. Niemals ist etwas davon gerichtlich bewiesen, keine Anzeige erfolgte. Manche der Kinder sind inzwischen nach Hause zurückgekehrt, andere bleiben noch in Gewahrsam, niemand weiß noch, wie die Sache ausgehen wird. Die Zeitungen sprechen bei diesem Vertrauenszusammenbruch von einer „civic catastrophe“. Neuerdings gibt es einen ähnlich unklaren Fall in Kärnten, der durch die Zeitungen gegangen ist.
Für den Wahrheitsgehalt von Gerüchten oder „übler Nachrede“ sind letztlich die Gerichte zuständig. Wir können täglich in den Medien erleben, wie schwer sie sich damit tun. Manchmal gelingt sogar ein Freispruch auch ohne Antreten eines Wahrheitsbeweises, wie jetzt im Fall Haider contra Simmel. Gerade bei Haider ist die konsequente Verfolgung eines besonderen Kardinalprinzips deutlich, das bei Tratsch, Gerücht und Verleumdung gleichermaßen zur Geltung kommt. Verleumdungen, auch wenn sie schließlich als unwahr erkannt werden, können trotzdem lange Zeit schaden, denn „es bleibt immer etwas hängen“. Audacter calumniare, semper aliquid haeret, wie der Lateiner sagt.
Im Jahr 1973 kam in der Bundesrepublik ein Gerücht auf, dass in einem Restaurant, das von Ausländern betrieben wurde, Rattenfleisch serviert wurde. In Hamburg wurde ein Chinalokal verdächtigt, in Berlin ein griechisches, in Mainz ein jugoslawisches, wie in weiteren 16 Städten und Dörfern. Nirgendwo davon erbrachten Inspektionen des Lebensmittelamtes oder Polizeiermittlungen irgendwelche Beweise. Die Fama als solches verklang wieder, aber sie hatte geholfen, die späteren Feuer zu entfachen.
Solche Gerüchtewellen basieren auf primitiven Mechanismen verbreiteter sozialer Vorurteile und müssen uns hier nicht weiter beschäftigen. Aber ein anderes Beispiel ist differenzierter und verdient unsere Aufmerksamkeit, da es von einer Psychoanalytikerin, Marie Langer in Argentinien, untersucht und nunmehr als die Geschichte des „gebratenen Kindes“ veröffentlicht wurde. In Argentinien zur Zeit der Peron-Diktatur kam folgende Geschichte auf, vielleicht hat sie jemand einem - oder einer - anderen beim Friseur erzählt. Ein gut situiertes Ehepaar mit einem Kleinkind verläßt sein Haus in Buenos Aires, um ins Kino oder ins Theater zu gehen. Sie lassen das Kind in der Obhut des Hauspersonals zurück. Wie sie spät abends wieder nach Hause kommen, um zu speisen - in Argentinien isst man abends sehr spät - serviert ihnen die Köchin ihr eigenes - gebratenes - Kind. Die Geschichte wäre nur eine Skurrilität gewesen, wenn nicht etwas Unvorgesehenes passiert wäre. Obwohl nirgends belegt, verbreitete sie sich mit großer Stärke und Geschwindigkeit durch die ganze Stadt. Warum hatte sie so besonders den Nerv der kollektiven Phantasie getroffen?
In Marie Langers Deutung lag es an der Spaltung der guten und der schrecklichen Mutter-Imagines in der ambivalenten Figur der Evita Peron, der Gattin des Diktators, die für die Bevölkerung ständig zwischen Heilige und Hure oszillierte. Selbst aus ärmlichen Verhältnissen kommend, hatte sie es einerseits geschafft, das Herz des Volkes für sich zu gewinnen und, als Anwältin seiner wahren Nöte und Sorgen, eine Aura des Sakrosankten um sich zu errichten. Andererseits war es nicht zu übersehen, dass sie in Saus und Braus lebte und alle Freuden ihrer Situation auszukosten wusste. Die Horrorgeschichte des gebratenen Kindes verhilft die abgespaltenen Hassgefühle zu ihrem notgedrungen ambivalenten Durchbruch. In der Rache des ausgebeuteten Hauspersonals wird der Gesellschaftsdame die schreckliche Rechnung serviert. Aber Evita ist selbst auch in der Figur der Köchin präsent, als Imago der bösen Mutter, die ihre Kinder vertilgt, sie dem ausländischen Kapital zum Fraß vorwirft.
Hier kommen wir wieder über die massenpsychologischen Auslöser des Gerüchts zu den Fragen der psychologischen Triebfedern des Tratsches. Ressentiments, Neid, voyeuristische und exhibitionistische Partialtriebe sind daran beteiligt, ähnlich wie beim tendenziösen Witz. Wo der Witz sich in den Dienst des Vorurteils stellt, gesellt er sich zum Tratsch. Das Maliziöse dabei kann konkrete kollektive Ausformungen annehmen, wie neuerdings in dem Phänomen des Mobbings. Vorurteile, wie wir von Horkheimer und Adorno wissen, gedeihen auf dem Boden von Konflikten, speziell zwischen einem unsicheren Ich und einem autoritären Über-Ich. Der narzisstische Gewinn des Witzeerzählers, wie Herr Shaked verdeutlicht hat, ist eine Falle, denn er basiert auf Unsicherheit und mangelndem Selbstwertgefühl. Mancher Witz mag uns kostbar und unwiderstehlich erscheinen, auf Grund seiner Qualität. Aber der stets zum Witzeln aufgelegte Mensch wirkt ermüdend, auf Grund seines schlecht versteckten Geltungsdranges. So ergeht es zuletzt dem Tratschenden auch, obwohl er, ebenso wie der Witzelnde, dies meist selbst gar nicht bemerkt. Wenn man ihn darauf aufmerksam zu machen versucht, macht er ein Lippenbekenntnis, aber denkt nicht daran, sich zu ändern. Woher diese seltsame Blindheit, sich in diesem Punkt zu reflektieren? Scheint ihm der Verlust des Lustgewinns zu hoch? Oder ist es nicht oft, wie ich vermute, eine versteckte Phobie, die ihn daran hindert? Witzeln, besonders der tendenziösen Art, und Tratschen, stellen Vermeidungen, Umgehungen eines Konfliktes dar: bei Menschen in besonderen öffentlichen Stellungen, die im Grunde mit ihrer phobischen Struktur schwer vereinbar sind, brauchen wohl diese Vehikel und Ventile als unabdingbare Accessoires im sozialen Nahkampf.
Der Tratsch arbeitet vorwiegend mit den Mitteln der Projektion. Projizierte Eigenschaften werden betratscht und zwischen Sender und Empfänger von Tratsch entsteht eine passagere projektive Identifizierung. Diese starke Neigung zur Projektion ist es auch, was es dem Tratschenden so schwer macht, seine negative Einwirkung auf andere zu realisieren, was ihn gewissermaßen sozial skotomisiert. Es gibt seelische Intimbereiche, oder vielleicht eher gewisse halbsoziale, halbintime Situationen, wo er seine Angst nur durch Projektion bewältigen kann und er bleibt unfähig, oft immer unfähiger, diese Projektionen zurückzunehmen. Zudem, so Thiele-Dohrmann, „offenbart ja der Klatschende durch sein Verhalten ein mangelhaftes Selbstwertgefühl, einen allzu auffälligen Drang nach Anerkennung; auch das schadet ihm auf die Dauer in seiner Umgebung (auch wenn er weiterhin gefürchtet sein mag, weil er Indiskretionen über einen selbst verbreiten könnte). Denn sobald die Klatschhörer wahrgenommen haben, dass die Selbstunsicherheit des Klatschenden sein Klatschmotiv ist, projizieren sie ihre eigene, immer latent vorhandene Selbstunsicherheit auf ihn, um sich selber, wenigstens zeitweise, entlastet fühlen zu können.“
„So wird ein Klatschverbreiter, häufig ohne es zu wissen, ein Opfer seines eigenen Systems (...) Als „Lückenbüßer“ wird er selbst zum Sündenbock, der uneingestandene negative Eigenschaften seiner Hörerschaft auf sich projiziert zu tragen hat. Dieser Last entgeht der Klatschende in der Regel nicht, weil er fast niemals seine Situation klar erkennt. Denn da ja auch die Projektionen der Klatschhörer von diesen unbemerkt geschehen und meist unbewusst bleiben, erfährt der Klatschende kaum jemals, dass er als Sündenbock für die Klatschlust der anderen, als „Funktionär des Klatsches“, dient und dass diese Rolle mit Geringschätzung betrachtet wird. Das heimliche Lachen über die Klatschmitteilung gilt oft zu einem Teil auch dem Klatschenden selbst. Erst wenn jemand Einblick in die eigene Klatschmotive gewinnt, verändert sich sein Verhältnis zum Klatsch, denn mit zunehmender Kenntnis der eigenen Antriebe, der unterdrückten Wünsche und Vorstellungen steigt das Selbstwertgefühl und reduziert sich der Zwang zu forcierter Selbstaufwertung durch Klatschverbreitung.“
Thiele-Dohrmann gibt auch Anleitungen zur Selbstreflexion für jene, die sich bei der Neigung ertappen könnten: „Bevor man anfängt, seinen Zuhörern etwas Negatives, allzu Privates oder Unfreundliches über einen Abwesenden mitzuteilen, sollte man sich fragen, was man mit einer derartigen Mitteilung beabsichtigt ? Ist Geltungsdrang das Motiv, will man durch einen Lacherfolg Anerkennung einheimsen, oder will man zeigen, dass man informiert ist und zu den „Eingeweihten“ gehört? Klatscht man aus Rache, will man dem Abwesenden schaden, weil man sich über ihn geärgert hat oder enttäuscht worden ist? Ist man neidisch oder eifersüchtig auf ihn und versucht deshalb, ihn durch Klatsch herunterzuziehen und lächerlich zu machen? Eine solche Selbstbefragung ist nicht einfach,“ meint der Autor, „sie erfordert den Willen zur Einübung von sprachlicher Selbstkontrolle.“
In dem einen, noch für mich hervorstechend peinlichen Fall, an den ich mich erinnere, als ich über einen Kollegen eine Information weitererzählte, die ihn abwerten sollte, waren, glaube ich, alle die obengenannten Motive im Spiel. Persönlich wird das Symptom plötzlich differenziert und überdeterminiert. Hier beginnt erst das oft unangenehme Stück persönlicher Analyse, das man in solchen Fällen, wenn man ein wenig Glück und Einsicht hat, noch nach- und einholen kann.
Wir haben bislang Tratsch als allgemeines soziales Phänomen gesehen, das unseren Kreis aber insofern speziell betrifft, weil unsere Patienten über uns tratschen, uns Tratsch über andere Kollegen erzählen, und weil wir übereinander tratschen. Die Atmosphäre brauche ich Ihnen nicht zu beschreiben, sie ist Ihnen vertraut, und bereits von Batya Gur in ihrem Krimi „Denn am Sabbath sollst Du ruhen“ ausreichend geschildert. Im letzten Teil will ich eine andere Seite des Problems beleuchten: wenn der Analytiker über seine Patienten tratscht. Am gründlichsten hat bislang Stanley Olinick dieses Phänomen untersucht, in seiner 1980 erschienenen Arbeit The gossiping psychoanalyst. Im Folgenden werde ich seine Hauptthesen präsentieren und am Schluss mit zwei persönlichen Ergänzungen kommentieren.
Seine Hypothese ist, wie ich noch ausführlicher zeigen werde, dass der Klatsch vor allem ein selbsteinschränkendes Vorspiel darstellt, nach dem Modell von Freuds „Vorlust-Prinzip“. Olinick bezeichnet zunächst die besondere Art, wie Analytiker über ihre Patienten tratschen – eine indiskrete Art von lockerem Gerede, mit oder ohne Namensnennungen oder anderen Identifizierungen. Dies sind improvisierte, beiläufige Fallvignetten, die man bei sozialen Begegnungen mit Kollegen oder anderen zur Sprache bringt. Sie sind nicht als wissenschaftliche Mitteilungen gedacht, sondern, als sozialer Gesprächsstoff, zu der Kategorie der „phatischen“ Sprechakte zugehörig.
Seine Vermutung über den Typus des Patienten, über den am ehesten getratscht wird, ist der einer narzisstischen Persönlichkeit, mit gut getarnter Grandiosität - mit einem subtilen, prononcierten Sinn fürs Dramatische beim Herausposaunen ihrer vordergründig erfolgreichen sozialen, ökonomischen, ehelichen oder sonst sexuellen Arrangements. In einem Wort, ein solcher Patient präsentiert sich als ein Objekt des Neides. Neid ist eine Grundvoraussetzung für Tratsch, auch wenn nur ein Faktor unter vielen.
Tratsch ist eine Gruppenaktivität, die in enger Verbindung zu den Über-Ich-Funktionen der individuellen Mitglieder steht. Olinick sieht die Spannungen zwischen Über-Ich und Ich hier auch als ausschlaggebend, wie auch das Bedürfnis nach Anerkennung und selbstgerechter moralischer Selbstaufwertung, usw. Gleichzeitig verschafft das Tratschen auch Lust. Es ist ein „push-pull“ Mechanismus, gleichsam Druck der Über-Ich-Spannung und verführerischer Sog der Lust.
Olinick diskutiert den Faktor der Isolation, Einsamkeit, des Alleinseins. Er geht zwar auf diese zentralen Aspekte der analytischen Tätigkeit ein, schließt aber: „Gegen die Erwartungen, sind Isolation und Einsamkeit nicht die primären Motive für den Patiententratsch. Der Analytiker fühlt sich am akutesten isoliert mit jenen schwierigen Patienten, die zu einem Arbeitsbündnis unfähig sind oder große Widerstände dagegen aufbringen. (...) aber die schwierigsten oder unzugänglichsten Patienten sind nicht die bevorzugten Objekte des Klatsches. Stattdessen grübelt man über sie nach und zu guter Letzt können sie Thema einer formalen oder informellen Konsultation mit einem Kollegen werden. O. erinnert an Freuds Diskussion des Witzes als eines sozialen Prozesses, der der Rolle einer dritten Person bedarf, über den gewitzelt wird, und er sieht den offenkundigen Zusammenhang mit dem Tratsch. Ähnlich wie beim Traum oder beim Witz operiert eine Art „Tratscharbeit“. Der Tratschende hat etwas gehört oder gesehen, das seine verdrängten Impulse und Affekte reizt. Um ohne Schuldangst die Verdrängung aufzuheben schafft er eine Kollusion mit seinem Zuhörer in einer projektiven Identifikation und somit gelingt es ihm, sein Über-Ich zu bestechen. Die Lust einer „auditiven Skoptophilie“ wird durch den Genuß der geteilten Geheimhaltung noch verschärft. Aber unähnlich dem tendenziösen Witz, beginnt und endet zumeist der Tratsch als Spiel, Verführung und Vorlust. Es gibt keine Pointe, keinen Lachorgasmus am Schluß. Stattdessen kann man unter Umständen Kichern, Anhalten der Spannung beobachten, das den Tratsch fortsetzen möchte. Wie beim sexuellen Vorspiel, kann es dazu kommen, dass die prägenitalen Freuden sich stärker als die Endlust erweisen: dann erzeugt Tratsch neuerlichen Tratsch in der Abwesenheit der vollen Befriedigung: es kommt zu keinem Höhepunkt, der Prozeß wird endlos zwischen verschiedenen Teilnehmern fortgesetzt.
Olinick weist daraufhin, dass die Bestechlichkeit des Über-Ichs nicht allein die Folge einer entwicklungsmäßig geschwächten Struktur, sondern auch eines besonderen Bedürfnisses nach Trost, Liebe und Hingabe darstellt. Er unterscheidet zwischen „phatischem“ Gerede, Sprechakte, deren Sinn nicht primär in der verbalen Mitteilung liegt, wie Gequassel oder Bramarbasieren, einerseits, und echtem Tratsch andererseits. Die „phatische“ Kommunikation, die dem Tratsch auch inhärent ist, könnte ein Übergangsphänomen sein, das an die Mutter-Kind-Einheit appelliert und jene warme, tröstende Sicherheit wiederherstellen will. Das Maliziöse am Tratsch, das sich vom gutartigen phatischen Aspekt des Gequatsches abhebt, kommt vielleicht als Ergebnis der Frustration solcher regressiven Wünsche. Ferner weist Olinick auch auf eine Inszenierung der Urszene hin, die in einer Analyse immer zumindest Eines bedeutet: den Konflikt zwischen sexueller Neugierde und deren Verdrängung oder Verleugnung.
Allport und Postmans klassischer Bericht „Die Analyse des Gerüchts“ bringt das Gerücht in Verbindung mit dem Tagtraum, auch als Mechanismus, der, ähnlich wie bei M. Langer, aus der Ambivalenz hervorgeht. Als O. schrieb, waren die Hämorrhoiden des damaligen Präsidenten ein Tagesthema in den USA. Olinick sieht dies als Ausdruck der Ängstlichkeit über eine hochambivalente, unsichere Zukunft. (Tatsächlich war es, wie wir inzwischen medizinisch genauer wissen, nicht der Anus des Präsidenten, der organisch dysfunktional war, sondern sein Gehirn.) Je wichtiger die Funktion des Tratsches für den Analytiker, schließt Olinick, umso ambivalenter ist seine allgemeine Gesamtsituation. Wenn diese Angst nicht durch die üblichen psychoanalytischen Mittel von Zuhören, Deuten und Rekonstruieren bewältigt wird, verschiebt und externalisiert sie sich in Form von Tratsch.
Olinick betont die allgemeine Situation des Analytikers. Schwierigkeiten in einer bestimmten Analyse werden in der Regel mit einsamem Nachgrübeln oder kollegialer Konsultation beantwortet. Die erhöhte allgemeine Neigung zum Tratsch bei einem Analytiker hingegen wird mit ambivalenten Spannungen in seiner privaten Lebenssituation oder in seiner Stellung im Ausbildungsinstitut in Verbindung gesehen. Dann sucht er einen verwandten „godsib“ oder gossip, einen „Klatschbasen“ für die gemeinsame projektive Identifikation. Daher liegt oft die Bedeutung des Tratschens nicht im besonderen Material des Patienten, das ausgeplaudert wird, sondern in den wechselseitigen Bedürfnissen des tratschenden Paares.
Nur in einem Punkt möchte ich von Olinicks Schlussfolgerungen abweichen und hier nur aus einem etwaigen Kulturunterschied zu den USA. Es betrifft die Frage nach der Isolation und Vereinsamung des Analytikers, die Olinick meiner Ansicht nach unterbewertet. In den USA herrscht gesellschaftlich im Allgemeinen eine andere Gruppenkultur als bei uns, mit vielen für uns oberflächlich anmutenden sozialen Ritualen und Techniken, die dennoch wichtig sind, weil sie die soziale Kohäsion verstärken. Fachliche Diskussionen in Gruppen von Mitgliedern und Kandidaten eines analytischen Instituts über ihre klinische Arbeit sind dort ein üblicher Teil ihrer Sozialisation, bei uns sind das eher Ausnahmeerscheinungen. Julie Hinsch und ich konnten feststellen, dass Kandidaten noch im Kontrollstadium oft kaum die soziale Erfahrung gemacht haben, ihre allgemeine klinische Arbeit in der Gruppensupervision analytisch zu reflektieren. Der Druck der Isolation und der - größtenteils unbewussten - Vereinsamung wird spürbar, wenn die primitiven und rigiden Über-Ich-Identifizierungen überhandnehmen und in den Behandlungen agiert werden. Ich bin der Ansicht, dass diese Form der Vereinsamung unbewusste Ressentiments schürt und dass das Curriculum des Instituts hier eventuell Vorsorge treffen könnte.
Den letzten Punkt von Olinick möchte ich zum Schluss besonders hervorheben und bekräftigen. „Die erhöhte Neigung zum Tratsch bei einem Analytiker ist mit ambivalenten Spannungen in seiner privaten Lebenssituation oder in seiner Stellung im Ausbildungsinstitut verbunden.“ Für die private Psychohygiene unserer Kollegen können wir uns nur im beschränkten Maße zuständig fühlen, aber die Frage, in wie weit die ambivalente Stellungen im Ausbildungsinstitut – d. h. auch die strukturellen Schwächen in der Hierarchie und im Demokratieverständnis einer Institution – pathogen wirken, sollte uns nicht kalt lassen. Hier könnten wir überlegen, wo noch Abhilfe zu schaffen wäre.
Allport & Postman (1947). The psychology of rumour. Oxford: Holt.
Bloch, Ernst (1985). Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gur, B. (1992) Denn am Sabbath sollst Du ruhen. München: Wilhelm Goldmann.
Konfuzius & Wilhelm, R. (1930). Li Gi. Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche. Düsseldorf/Köln: Diederichs.
Thiele-Dohrmann, K. (2000). Der Charme des Indiskreten – eine kleine Geschichte des Klatsches. Zürich/Düsseldorf: Artemis & Winkler.
Mitscherlich, A. (1973). Kurze Apologie des Klattsches. In: Haase, H. (Hg.) Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.
Olinick S. L. (1980). The gossiping psychoanalyst. In: International Review of Psycho-Analysis vol. 7 (439-445).
Eingegangen: XX. Monat 20XX
Peer Review: XX. Monat 20XX
Angenommen: XX. Monat 20XX
Felix de Mendelssohn (*14. November 1944 in London – †7. Oktober 2016 in Wien) lebte und arbeitete als Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker in Wien und Berlin und unterrichtete in der Sigmund Freud Privatuniversität.
Diesen Artikel zitieren als: Mendelssohn Felix de. (2019). Psychoanalytischer Tratsch. Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, 5, Y–ZZ.
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