Anna Schor-Tschudnowskaja: Das Zusammentreffen zweier Sprachen. Möglichkeit der Rhythmuswahrnehmung in einer nicht verständlichen Fremdsprache

Zeitschrift für Beratungs- & Managementwissenschaften

The Open Access E-Journal

Das Zusammentreffen zweier Sprachen. Möglichkeit der Rhythmuswahrnehmung in einer nicht verständlichen Fremdsprache

 

Anna Schor-Tschudnowskaja 1 *

 

Zusammenfassung

Die Fähigkeit, Rhythmen wahrzunehmen, und das Bedürfnis nach ihrer strukturierenden Leistung sind universell menschlich, d.h. kultur- und sprachunabhängig. Allerdings weisen Kulturen und Sprachen ihre ganz besonderen rhythmischen bzw. zeitlichen Eigenarten auf. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, inwiefern die Rhythmuswahrnehmung in einer nicht verständlichen Sprache möglich ist und welche Rolle dabei der eigenen Muttersprache zukommt. Es wird die Vermutung diskutiert, dass die Wahrnehmung des Rhythmus je nach Intensität der Beherrschung der Sprache unterschiedlich gut sein sollte. Diese Vermutung wurde im Rahmen einer kleinen Versuchsanordnung experimentell untersucht. Zur Operationalisierung des Sprachrhythmus wurde dabei die metrische Struktur der poetischen Kunstsprache mit zwei metrischen Mustern benutzt. Da die Untersuchung an deutschen Versuchspersonen erfolgte, dienten Deutsch als Muttersprache und Russisch als nicht verständliche Fremdsprache.

Die Ergebnisse der kleinen Untersuchung belegen zwar generell den vermuteten Zusammenhang, spezifizieren ihn aber zugleich genauer, was relevante Fragestellungen für potentielle weitere Untersuchungen generieren könnte. Ganz besonders wurde dabei sichtbar, wie sehr die Muttersprache eine Bezugsfunktion ausführt und wie sehr sie mnestisch von Bedeutung ist. Es wird daher nahe gelegt, die grundlegende kognitive Funktion der eigenen Sprache sowohl auf der Ebene der Prosodie als auch auf der Ebene der Semantik beim Umgang mit Fremdsprachen zu berücksichtigen.

Abstract

The ability to perceive rhythms and the need for their structuring performance are universally human, i.e. independent of culture and language. However, cultures and languages have their own special rhythmic and temporal characteristics. This paper examines the extent to which rhythm perception is possible in a language that cannot be understood and the role played by one's own mother tongue. The assumption is discussed that the perception of rhythm should vary according to the intensity of the command of the language. This assumption was investigated experimentally within the framework of a small experimental set-up. The metric structure of the poetic artificial language with two metric patterns was used to operationalize the rhythm of language. Since the study was carried out on German test persons, German served as the mother tongue and Russian as an incomprehensible foreign language. Although the results of this small study generally prove the presumed connection, they also specify more precisely what could generate relevant questions for potential further investigations. In particular, it became apparent how much the mother tongue performs a reference function and how important it is mnestically. It is therefore suggested to consider the basic cognitive function of one's own language, both at the level of prosody and at the level of semantics, when dealing with foreign languages.

Keywords: XXXXXX

 

1 Diplom-Psychologin und promovierte Soziologin,wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Psychologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität

* Korrespondenz über diesen Artikel ist zu richten an Dr.in Anna Schor-Tschudnowskaja, Campus Prater Freudplatz 1, 1020 Wien, anna.schor-tschudnowskaja@sfu.ac.at
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1.Sprache und Rhythmus

Der Rhythmus einer Sprache im Sinne einer zeitlichen Organisation einer Reihenfolge von fortlaufenden Klangereignissen (Müller & Humpert, 1994) kann sich auf unterschiedlichen Ebenen äußern. Als Einheiten können z.B. Vokale, Satzteile oder ganze Sätze auftreten. Folgt man der Einteilung in eine inhaltliche und eine prosodische Sprachebene, können wir einen inhaltlichen Rhythmus und einen formalen, klanglichen Rhythmus der Sprache unterscheiden, wobei jeder der Rhythmen eine bedeutungsvermittelnde Funktion erfüllt (vgl. Lübkoll, 1999). Man kann sagen, dass Sprachrhythmus und Verständnis in einem engen Zusammenhang stehen (Giger, 1993).

So beschreibt der inhaltliche Rhythmus, in welcher Reihenfolge bestimmte Informationen — Inhalte — angesprochen werden; und die sinntragenden
Elemente der Sprache können, je nachdem in welcher Reihenfolge sie zusammen auftreten, den endgültigen Sinn der Aussage modulieren. Man könnte diesen Rhythmus auch als stilistisch bezeichnen.

Der klangliche oder prosodische Rhythmus beschreibt dagegen formal-akustische Aspekte der Sprache, wozu z. B. Akzentgebung und Tonhöhenverlauf einzelner Sprachelemente gehören. Die prosodischen Sprachkonturen erfüllen aber immer auch eine inhaltliche Indikatorfunktion, was v. a. die emotionsbezogene Information betrifft (ebd.). Die verschiedenen Rhythmen einer Sprache können unterschiedlich organisiert sein. Sie wirken vielfach interaktiv und sind zusammengenommen als bestimmter Rhythmus dieser Sprache wahrnehmbar.

Rhythmus modelliert somit sowohl die Bedeutung als auch die Zeitlichkeit, in ihm kommen Inhalt und Struktur zusammen. Die Wahrnehmung von Rhythmus, d. h. von einer zeitlichen Organisation einer sprachlichen Äußerung, ist oft einer der ersten Schritte beim Erlernen einer Sprache, so z. B. Bruhn (1998). Auch nach Ciompi (1988) setzt der Spracherwerb intakte Zeitwahrnehmung und -verarbeitung voraus, denn, so auch Kegel (1990), ein Sprachsignal kann nur dann vollständig verarbeitet werden, wenn es auch wie ein Zeitsignal betrachtet wird. Eine Störung, die die rhythmischen Muster der Sprache betrifft, hat entscheidende Folgen für das Erfassen und für die Produktion von Sprache.

In den heutigen vielfach pluralen und offenen Gesellschaften, bei der stark gestiegenen sozialen Mobilität und bei den mitunter mehrmals in einem Berufsleben vorkommenden Wechseln von Arbeitsplatz und Wohnort kann man von einem lebenslangen Spracherwerb ausgehen. Ein in einer anderen Sprachgemeinschaft sozialisierter Mensch verrät sich fast immer (zumindest) durch seinen Akzent. Er verrät nicht nur, dass er ein sprachlicher „Ausländer“ ist, sondern auch seine sprachliche Herkunft, d. h. welcher „Ausländer“ er ist. Die Defizite in den weiteren (Fremd-)Sprachen, die man erwirbt, sind also meistens weniger lexikalischer Natur (d. h. den Wortschatz betreffend), sondern machen sich besonders auf der phonologischen Ebene bemerkbar (Klemm, 1987).

Für eine umfassende Verarbeitung aller Spracheigenschaften werden intakte interhemisphärische Prozesse benötigt. Es ist zu vermuten, dass die interhemisphärische Verarbeitung einer neuen (Fremd-)Sprache nach der Pubertät nicht mehr möglich oder zumindest nicht mehr ausreichend ist. Auch der automatische Erwerb einer bestimmten Sprache allein dadurch, dass man in ihrem Bereich lebt, geht dann meist verloren. Es bedarf also einer langen Übung in der Fremdsprache, bis ihre Aussprache, intonatorischen Besonderheiten, Melodie und ihr Sprachrhythmus einigermaßen beherrscht werden. Daher stellt sich die grundlegende Frage, inwiefern die während der Zeit- und Sprachentwicklung (Erwerb der Muttersprache) erworbenen Fähigkeiten der Wahrnehmung, Reproduktion und Antizipation vom Rhythmus auf andere Sprachen übertragbar bzw. anwendbar sind.  Mit anderen Worten: Wie sehr wirkt sich die in der Kindheit erworbene Muttersprache (oder auch die in der Kindheit erworbenen Muttersprachen!) auf den Erwerb weiterer Sprachen aus? Insbesondere die prosodischen,  rhythmischen Eigenschaften der Muttersprache interferieren mit denen einer Fremdsprache viel stärker als die lexikalischen, so die Vermutung. Dem Fall des Zusammentreffens (mindestens) zweier Sprachen und ihrem Zusammenspiel, speziell bei der Wahrnehmung von Rhythmus, ist die kleine Pilotuntersuchung gewidmet, die im Folgenden dargestellt wird. Diese Voruntersuchung soll helfen, Hypothesen in Hinblick auf das Zusammenwirken von rhythmischen Eigenschaften zweier und mehrerer Sprachen genauer zu entwickeln.

 

2. Hinführung zur Fragestellung des Versuchs

Mich interessieren in erster Linie Prozesse der Interferenz (gegenseitige Überlappung, die eine Wirkung stärker oder schwächer macht) und des Zusammenwirkens von zwei (oder mehr) Sprachen im Bewusstsein eines Menschen. Im Zusammenhang damit möchte ich zwei Studien erwähnen, deren Ergebnisse für mich ausschlaggebend waren, da sie eine transkulturelle Bedeutung bestimmter Rhythmen nahe legten. So unternahm zum Einen Giger (1993) eine musikalische Analyse der Rockmusik, ihrer Gestaltung und ihrer Wirkung in unterschiedlichen kulturellen Räumen. Dabei stellte er fest, dass sowohl dem motorisch-pulsierenden Grundschlag als auch dem anapästischen Rhythmus (wichtige Grundlagen der Rockmusik, die wohl für ihren weltweiten Erfolg verantwortlich sind) eine interkulturelle Bedeutung innewohnt.

Zum anderen setzte sich Paul (1984) mit der Zeiterfahrung von Sprache auseinander und fand heraus, dass alle Sprachen (bzw. Kulturen) eine fundamentale Einheit metrischer Sprache (Dichtung) aufweisen. Er behauptete, dass „metrische und damit auch Verssprache durch Regelmäßigkeit in der Abfolge bestimmter Lautqualitäten gekennzeichnet ist und dass diese Bestimmung ersichtlich sowohl für indoeuropäische wie auch für chinesische und japanische Verse gilt; – um denkbar entfernt liegende Beispiele zu nennen“ (ebd., S. 113). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Eigenschaften und Eigenarten metrischer Sprache wie auch die komplexe Zeiterfahrung in jeder Sprache und in jeder Sprachgemeinschaft verschieden sind. Als Beispiel führte Paul an, dass im Japanischen Hexameter und überhaupt Langverse fehlen. Der Prozess der Sprachentwicklung innerhalb der japanischen Sprachgemeinschaft würde somit auf eine ganz spezifische Art und Weise bestimmen, wie sprachliche Zeitstrukturen gebildet, wahrgenommen und verarbeitet werden.

Laut Paul (ebd.), der eine Vergleichsanalyse deutscher und japanischer Gedichte durchgeführt hat, übt Lyrik eine harmonisierende Wirkung auf das menschliche Bewusstsein aus, weil sie im besonderen Maße beide Hemisphären anspricht. Demnach ist das Bedürfnis nach metrischen bzw. lyrischen Sprachreizen universell menschlich. Erreichen jedoch die metrischen lyrischen Reize das Bewusstsein des Menschen bzw. können sie ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn es sich dabei um die Muttersprache handelt? Dem metrischen Rhythmus in der Dichtung wird eine besondere sinnstiftende bzw. sinnbestimmende Funktion zugemessen, die er nicht selten erst durch künstliche Störung bzw. Verfremdung des natürlichen Sprachrhythmus erfüllt (Knörrich, 1992). Und wenn der Rhythmus eines Gedichts nicht selten gerade „gegen“ die Sprache realisiert wird, wie gut muss dann die Sprache beherrscht werden, damit das Gedicht in seiner vollen Ausprägung wahrgenommen werden kann! Nicht zufällig gilt die Fähigkeit, fremdsprachige Gedichte zu verstehen und zu genießen, als ein besonders sensibler Indikator für eine gelungene Aneignung und Verinnerlichung einer anderen Sprache.

In der folgenden kleinen Pilotuntersuchung geht es um Wahrnehmung von Rhythmusdifferenzen und Rhythmusgleichheit am Beispiel von poetischen Versmaßen in der Muttersprache und in einer nicht verständlichen Fremdsprache. Die Versuchsanordnung folge folgenden Fragestellungen: (1) Fallen Vergleiche der rhythmischen Muster in der Muttersprache leichter bzw. besser aus als in einer nicht verständlichen Fremdsprache und (2) ist dabei ein wie auch immer geartetes Zusammenspiel der Muttersprache mit der Fremdsprache festzustellen.

 

3. Versuchsanordnung

In der von mir durchgeführten Voruntersuchung mit deutschen Probanden wurde Sprachrhythmus durch poetische Versmaße Jambus und Daktylus und eine nicht verständliche Fremdsprache durch Russisch operationalisiert. Die 24 Versuchspersonen (im Folgenden: Vpn) wurden mit 48 Vergleichsaufgaben konfrontiert, die je ein Paar von Zweizeilern enthielten. Russische und deutsche Gedichte, die in einer Zufallsreihenfolge per Kopfhörer abwechselnd präsentiert bzw. sukzessiv dargeboten wurden und zu vergleichen waren, erlaubten es, die Güte der Rhythmuswahrnehmung in jeder der Sprachen zu ermitteln und sie zwischen den Sprachen zu vergleichen.

Variiert wurden sowohl die sprachliche als auch die rhythmische Zusammensetzung der Aufgaben. Alle möglichen Kombinationen kamen vor: Die beiden zu vergleichenden Zweizeiler einer Aufgabe konnten entweder (beide) auf Deutsch oder Russisch und im gleichen oder unterschiedlichen Versmaß sein, sie konnten aber auch in unterschiedlichen Sprachen (der eine auf Deutsch und der andere auf Russisch) und dabei ebenfalls im gleichen oder unterschiedlichen Versmaß sein.

Die gewählten metrischen Maße, Jambus und Daktylus, gestalten den Rhythmus eines Gedichts sehr unterschiedlich. Im jambischen Versmaß folgt auf eine unbetonte Silbe eine betonte, und dieses Versmaß besteht insgesamt aus lediglich zwei Einheiten. Nach Knörrich (ebd.) drückt der Jambus am besten eine steigende Bewegung und Gerichtetheit aus; er ist der in der deutschen Dichtung am häufigsten verwendete Versfuß. Der Daktylus besteht dagegen aus drei Einheiten und beginnt mit einer betonten Silbe, an die sich zwei unbetonte Silben anschließen. Die beiden Parameter — Anzahl der Einheiten und Position der ersten betonten Silbe — sind im Jambus und im Daktylus verschieden. Der Daktylus ist der wichtigste dreisilbige antike Versfuß und eignet sich, so Knörrich (ebd.), besonders zum Ausdruck einer feierlichen Hochstimmung.

Ich möchte darauf hinweisen, dass mir bewusst war, dass das Metrum dem eigentlichen rhythmischen Leben des Verses gegenüber immer nur eine Annährung darstellt. „Der metrische Rahmen ist mannigfach wechselnder Erfüllung fähig“ schrieb Pfeiffer (1960, S. 32). Die Beziehung der poetischen Sprache auf das metrische Schema ist zwar immer gegeben, wird allerdings fast nie streng eingehalten. Jedoch liegt das metrische Schema dem Rhythmus des Gedichts immer zugrunde, und daher gehören sie zusammen.

Die folgenden beiden Zweizeiler-Paare veranschaulichen die Aufgaben, mit denen die Vpn konfrontiert wurden. Sie können an dieser Stelle jedoch nur bedingt als Beispiele dienen, da ja der Ablauf des Versuchs nicht voraussah, dass die Vpn die Zweizeiler sehen bzw. lesen können. Alle Zweizeiler wurden ausschließlich akustisch (per Kopfhörer) dargeboten.

Akustischer Reiz:

Es steigt in schlankem Strahle

In dunkle Laubesnacht (Jambus)

Vier Sekunden Pause

Unter den Zweigen des östlichen Haines

Säuselt der Kalmus im rötlichen Schein (Daktylus)

Fünf Sekunden Pause, danach Wiederholung der beiden Zweizeiler in der gleichen Reihenfolge

Und hier auch ein Beispiel für eine bilinguale Aufgabe:

Akustischer Reiz:

Fühl, ich bin ganz ohne Schuld oder Bürde,

Schwebende Schönheit: so heißt meine Würde (Daktylus)

Vier Sekunden Pause

Я ждал. Невестою-царицей

Опять на землю ты сошла (Jambus)

Fünf Sekunden Pause, danach Wiederholung der beiden Zweizeiler in der gleichen Reihenfolge.

Als Vpn kamen nur solche in Frage, deren Muttersprache Deutsch war und die Russisch weder aktiv sprachen noch passiv verstanden. Zudem wurde jede Vp zu Beginn des Versuchs einem Hörtest unterzogen. Nach den 48 Aufgaben wurden die Vpn noch kurz befragt, ob die einsprachigen Aufgaben schwieriger oder leichter waren und ob sie den Eindruck hatten, dass die deutschen Zweizeiler stets anders präsentiert wurden als die russischen. Die gesamte Versuchsdauer lag zwischen 50 und 70 Minuten.

Die Vpn waren instruiert, bei ihrem Vergleich die sprachliche Zusammensetzung des Zweizeiler-Paares außer Acht zu lassen. Die beiden Zweizeiler sollten ausschließlich hinsichtlich ihrer Art – also nicht ihrer Sprache – miteinander verglichen werden. Zudem wurden die Vpn gebeten, die Inhalte der verständlichen deutschen Zweizeiler beim Vergleich nicht zu berücksichtigen. Den Vpn wurden die Zweizeiler durch mehr oder weniger monotones Vortragen präsentiert. Zumindest wurde versucht, die Betonung der sinntragenden Wörter bzw. Satzteile zu unterdrücken, die Satz- bzw. Versmelodie „flacher“ zu gestalten und das Versmaß dabei durch ein solches monotones Vortragen zu unterstreichen.

Dem eigentlichen Versuch gingen sechs Übungsaufgaben voran. Mit diesen Übungsaufgaben wurde bezweckt, dass sich jede Vp mit dem Ablauf des eigentlichen Versuchs vertraut macht, dass sie die einander abwechselnden Aufgabenarten und den Zeitplan der einzelnen Aufgaben kennenlernt. Wichtig war, dass sich jede Vp bereits vor dem eigentlichen Versuch mit der fremden Sprache (Russisch) auseinandersetzt, damit sich der erste Überraschungseffekt nicht auf den eigentlichen Versuch auswirkt. In Vorversuchen hat sich nämlich gezeigt, dass der Klang der Fremdsprache — zumal Russisch für viele vollkommen unbekannt war — überraschend wirkt: alle Vpn zeigten in Vorversuchen entsprechende Reaktionen.

Gewisse methodische Unzulänglichkeiten bei Operationalisierung und Versuchsanordnung erwiesen sich als unausweichlich. So wurde z.B. die Länge der Zweizeiler (die Anzahl der Silben bzw. der Hebungen und Senkungen) innerhalb der Aufgaben nicht gleich gehalten. Es ist auch anzumerken, dass die poetische Sprache sehr selbstreferentiell ist und von der Alltagssprache stark divergiert. So haften nach Meinung von Klemm (1987) an der Kunstsprache sowohl Eigenschaften der Musik als auch der Alltagssprache. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Stimme, mit der die Aufgaben vorgesagt wurden, die Stimme der Autorin ist, was bedeutet, dass die deutschen Wörter unter Umständen mit leichtem russischem Akzent erklungen sind. Dennoch ergaben sich bestimmte aufschlussreiche Tendenzen aus den Befunden, die für die oben formulierte Fragestellung relevant sind.

 

4. Befunde und die daraus folgenden Hypothesen

Wie erwartet, schnitten die Vpn am schlechtesten bei den russischen Aufgaben ab, wo zwei Zweizeiler auf Russisch zum Vergleich dargeboten wurden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die russischen Gedichte von vielen Vpn als schön empfunden wurden und dass viele Vpn meinten, die russisch-russischen Vergleiche seien leichter, da man dabei nicht vom Inhalt der Gedichte abgelenkt werde und sich deshalb leichter auf die Form der Gedichte konzentrieren könne. Diesen Äußerungen ist zu entnehmen, dass sich die Vpn bei den deutsch-deutschen Vergleichen vom Inhalt der Zweizeiler abgelenkt fühlten. Das konnte bei den russisch-russischen Aufgaben tatsächlich nicht der Fall sein, und diese Erleichterung haben die Vpn sofort realisiert. Aber das Realisieren einer subjektiv als leichter empfundenen Bedingung bedeutete keineswegs, dass die Vergleichsleistung auch tatsächlich besser ausfiel! Zumindest spricht die Auswertung der Daten dafür, dass die russisch-russischen Vergleiche, die als leichter und sogar schöner empfunden wurden, die schwierigste Aufgabenart darstellten. Die Leistungen waren dabei in der Tendenz häufiger falsch, und zwar unabhängig davon, ob die beiden russischen Zweizeiler tatsächlich im gleichen oder im unterschiedlichen Versmaß verfasst wurden. Insgesamt war diese Leistung schlechter als bei den deutsch-deutschen oder den bilingualen Vergleichen. Die Vpn meinten zwar, den Rhythmus in der russischen Sprache wahrnehmen zu können, sie haben ihn aber im Durchschnitt nicht richtig vergleichen können.

Wider Erwarten erzielten die Vpn die beste Leistung im Durchschnitt nicht bei den Aufgaben in der Muttersprache (also den deutschen Aufgaben), sondern bei bilingualen Aufgaben, und zwar bei solchen im gleichen Versmaß: Das gleiche Versmaß eines deutschen und eines russischen Zweizeilers wurde fast durchgehend richtig erkannt. Das war bei Vergleich eines deutschen und eines russischen Zweizeilers sogar signifikant besser (T-Wert = -6,12;
p = ,000) als bei Vergleich von zwei deutschen Zweizeilern. Die Leistungen der Vpn bei den bilingualen Aufgaben im gleichen Versmaß waren auch erheblich besser als bei den bilingualen Aufgaben im unterschiedlichen Vermaß (T-Wert = -4,73; p =  ,000). So oft wie bei den bilingualen Vergleichen wurde also das gleiche Versmaß weder in der Muttersprache noch im Russischen erkannt. Das bedeutet, dass sowohl die Wahrnehmung des metrischen Maßes in den russischen Gedichten als auch sein Vergleich mit dem Metrum im Deutschen für deutsche Probanden grundsätzlich möglich war.

Bei den Vergleichen in der eigenen Muttersprache (also im Deutschen) ist die Situation gerade umgekehrt. Das zweitbeste Ergebnis in der gesamten Voruntersuchung erzielten die Vpn beim Vergleich von zwei deutschen Zweizeilern in unterschiedlichem Versmaß. In der eigenen Muttersprache konnte also das unterschiedliche Versmaß am besten erkannt werden. Diese Leistung ist deutlich besser als bei den deutsch-deutschen Vergleichen im gleichen Versmaß (T-Wert = 4,55; p =  ,000). Mehr sogar: Bei den Vergleichen der deutschen Zweizeiler im gleichen Versmaß war die erzielte Leistung der Vpn genauso schlecht (nicht signifikant besser, T-Wert = 0,59; p =  ,558) wie bei den russisch-russischen Vergleichen im gleichen Versmaß.

Um die Befunde nun besser theoretisch einordnen können, ist es notwendig, die Situation, mit der die Vpn konfrontiert wurden, nochmals genau zu analysieren: Die Aufgabe war, die Gleichheit bzw. die Differenz der präsentierten rhythmischen Muster der Zweizeiler miteinander zu vergleichen. Aus den Rückmeldungen der Probanden geht hervor, dass die einfachste und naheliegende Strategie des Vergleichs darin bestand, die beiden Zweizeiler im Bewusstsein zu verbinden. Dabei konnte man am besten erkennen, ob es vorstellbar wäre, dass die beiden Zweizeiler aus einem und demselben Gedicht oder zumindest aus Gedichten im gleichen Versmaß stammen könnten. Eine solche Strategie ist jedoch nur dann realisierbar, wenn man wenigstens einen der Zweizeiler im Gedächtnis behalten und wiederholen kann.

Die Tatsache, dass die Leistungen bei den Vergleichen zwischen zwei russischen Zweizeilern am schlechtesten ausfielen, ließ mich zunächst vermuten, dass die deutschen Vpn den Rhythmus der russischen Sprache nicht wahrnehmen konnten. Diese Vermutung erweist sich allerdings als voreilig, wenn man berücksichtigt, dass zwei gleiche Versmaße eines deutschen und eines russischen Zweizeilers fast immer richtig erkannt bzw. angegeben wurden. Die schlechte Leistung bei den russisch-russischen Aufgaben erklärt sich also viel mehr damit, dass die Zweizeiler in einer nicht verständlichen Fremdsprache nicht behalten und wiederholt und dadurch nicht verglichen werden können. Dieses Ergebnis sagt also nicht nur etwas über die Wahrnehmung des Sprachrhythmus in der Fremdsprache, sondern auch über die Möglichkeit seines Behaltens aus. Die Rhythmen in der Fremdsprache können offensichtlich nicht so einfach behalten werden, ihre mnestische Verarbeitung erweist sich als problematisch.

Erst das Vorhandensein wenigstens eines verständlichen und zu behaltenden Zweizeilers machte den geforderten Vergleich bzw. die Bewertung des Rhythmus auch in der Fremdsprache möglich. Die Muttersprache übernahm in diesem Falle die Rolle der Bezugsgröße, es zeigte sich ein sogenannter Kontexteffekt. Diese Vermutung korrespondiert mit der klassischen Theorie des Vergleichsurteils: „Nach landläufiger Auffassung wird bei sukzessiven Vergleichen zweier Reize das ‚Vorstellungsbild‘ des vorausgegangenen Reizes auf das ‚Wahrnehmungsbild‘ des dargebotenen Reizes projiziert. Decken sich die beiden Bilder, dann wird das Urteil ‚gleich‘ [...] abgegeben“ (Haubensak, 1985, S. 24). Menschliche Wahrnehmungen wie auch Urteile sind kontextabhängig. Erst das Vorhandensein der Muttersprache machte es möglich, dass die richtige Beurteilung eines bestimmten Merkmals (in diesem Fall: Rhythmus) auch in der nicht verständlichen Sprache möglich wurde.

Diese Strategie war aber nur bei solchen Aufgaben anwendbar, die wenigstens einen deutschen Zweizeiler enthielten. Nur dann war es möglich, wenigstens einen der beiden Zweizeiler kurzfristig zu behalten und nach der Darbietung nochmals gedanklich zu wiederholen.

Mit anderen Worten: Das Vergleichen zweier rhythmischer/metrischer Strukturen in der nicht verständlichen Fremdsprache wurde dadurch erschwert, dass die Fremdsprache mnestisch nicht oder ungenügend verarbeitet werden kann. Unter bestimmten Rahmenbedingungen, und zwar gesetzt in Bezug auf die Muttersprache mit gleichen rhythmischen Charakteristika, konnte der Rhythmus auch in der nicht verständlichen Fremdsprache richtig beurteilt werden.

Beim Vergleich von rhythmischen Strukturen zweier Verse in der Muttersprache stellte sich offensichtlich ein anderes Problem ein: Die Aufmerksamkeit der deutschen Probanden war gleichzeitig auf sehr viele Unterschiede zwischen den Versen eines Paares gerichtet. Die rhythmischen Nuancen, die Längen der Zeilen, die Stimmung, der Wortgebrauch oder auch die beschriebene Handlung waren in den deutschen Versen stets verschieden. Aus diesem Grund haben die Probanden zwar den unterschiedlichen Rhythmus gut wahrnehmen können; sie haben aber auch bei den deutsch-deutschen Paaren im gleichen Rhythmus tendenziell angegeben, dass die beiden Zweizeiler rhythmisch verschieden sind.

Das Konzept der rhythmischen Monotonie eines Verses kann erklären, warum die deutschen Vpn dazu neigten, zwei deutsche Verse im gleichen Rhythmus doch eher als rhythmisch verschieden zu beurteilen. Laut diesem Konzept hebt die rhythmische Monotonie in einem Gedicht, im Gegensatz zur Alltagssprache oder Prosa, seine emotionale Komponente hervor. Ein Gedicht als Sonderfall der zeitlich-sprachlichen Struktur lebt, so Newsgljadowa, von einem zumindest ein wenig monotonen Vortragen (Newsgljadova, 1998). Berücksichtigt man die Tatsache, dass die deutschen Verse für die Vpn im vollen Maße verständlich waren, erscheint es nachvollziehbar, warum sie tendenziell die deutschen Verse auch dann als verschieden beurteilten, wenn ihre rhythmische Gestalt, nämlich die Versmaße, gleich waren.

Schließlich muss die Frage aufgeworfen werden, warum zwei unterschiedliche Versmaße zweier unterschiedlichen Sprachen so selten als solche erkannt wurden. Viel häufiger wurden sie ebenfalls als gleich beurteilt. Möglicherweise spielt auch hier der Umstand eine wichtige Rolle, dass alle Verse sehr monoton vorgetragen wurden. Zwar waren die Versmaße anders, doch waren die beiden Zweizeiler in ihrer rhythmischen monotonen Gestalt ähnlich. Und auch diesbezüglich zeigt sich wahrscheinlich ein Kontexteffekt: Das monotone Vortragen der russischen Verse wäre ohne die Anwesenheit eines deutschen Verses nicht wahrnehmbar. Bei den ebenfalls monoton vorgetragenen russisch-russischen Vergleichen entschieden sich die Vpn relativ selten dazu, den Rhythmus als gleich anzugeben. Vermutlich war in einer nicht verständlichen Fremdsprache sogar die Wahrnehmung der Monotonie nicht sicher genug, um darauf ein Urteil zu stützen.

 

5. Schluss

Es soll vorangestellt werden, dass es sich um eine Voruntersuchung handelt, deren Auswertung Hypothesencharakter hat und noch nicht einer Verallgemeinerung gleichkommen darf. Dennoch lassen sich Tendenzen erkennen: Es lässt sich festhalten, dass (1) Vergleiche der prosodischen rhythmischen Muster in der Muttersprache nicht unbedingt leichter bzw. besser ausfallen als in einer nicht verständlichen Fremdsprache, da sie sehr von (verständlichen) Inhalten beeinflusst werden. Damit wird die Vermutung bekräftigt, dass alle Arten von Sprachrhythmen in einem Zusammenhang mit Sinngehalt der sprachlichen Äußerung stehen. Sowohl in der poetischen Kunstsprache, die Eigenschaften einer Musik aufweist (Klemm, 1987), als auch in der Alltagssprache ist mit diesem Zusammenhang zu rechnen.

Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass (2) von einem Zusammenspiel der Muttersprache mit Fremdsprachen auszugehen ist. So können Rhythmen in einer nicht verständlichen Fremdsprache nicht nur wahrgenommen, sondern auch richtig beurteilt bzw. verglichen werden, wenn die eigene Muttersprache als Bezug bzw. eine Art „Taktgeber“ dient. Das Zusammentreffen zweier Sprachen im menschlichen Bewusstsein fogt den Gesetzmäßigkeiten der Kontextabhängigkeit der menschlichen Wahrnehmung, die nach wie vor noch viele Fragen offen lassen.

 

 

Literatur

Bosse, H. & Renner, U. (Hrsg.) (1999), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau: Rombach Druck- und Verlagshaus.

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Eingegangen: 04. Mai 2019Peer Review: 10.Mai 2019Angenommen: 15. Mai 2019

 

Autorin

Anna Schor-Tschudnowskaja: Diplom-Psychologin und Soziologin. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Psychologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorien der Gegenwart, Moderne und Postmoderne, postutopische und postsowjetische Gesellschaften.

 

Diesen Artikel zitieren als: Schor-Tschudnowskaja, A. (2019). Das Zusammentreffen zweier Sprachen. Möglichkeit der Rhythmuswahrnehmung in einer nicht verständlichen Fremdsprache. Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, 5, Y–ZZ.

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