Zeitschrift für Beratungs- & Managementwissenschaften | The Open Access E-Journal |
Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2019/01
ISSN 2312–5853
Full Text: Artikel als PDF
Daniela Hofmann
Was ist das Muster, das die Lyrik mit der Sprachphilosophie von Martin Heidegger in Bezug auf (bindungs-)traumatisierte Menschen verbindet? Ausgehend von dieser Frage unternimmt die Autorin den Versuch die Wirkungsweise von Gedichten bei (bindungs-)traumatisierten Menschen zu erklären. Die sprachphilosophischen Ausführungen von Martin Heidegger sowie seine Gedanken zur Sprache im Gedicht dienen als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.
What is the pattern that connects poetry with Martin Heidegger's philosophy of language in relation to (bonding-) traumatised people? Based on this question, the author attempts to explain the effect of poems on (bonding-) traumatised people. Martin Heidegger's philosophical explanations of language and his thoughts on language in poems serve as a starting point for her reflections.
Keywords: Sprachphilosophie, Anklang und Widerhall, Trauma, Risse, Sinn
1 Korrespondenz über diesen Artikel ist zu richten an Daniela Hofmann, Email: daniela-hofmann@a1.net
„Die Sprache ist das Haus der Seins.
Die Denkenden und die Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.
Sich einer Person in seinem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen.“
(Heidegger, 2000, S. 8, Über den Humanismus)
In meine Praxis als Psychotherapeutin kommen viele Menschen, die als Folge von traumatisierenden Erfahrungen ihre Sprache „verloren“ haben. In meiner Arbeit mit diesen Menschen gewann die Beschäftigung mit der Sprache in den vergangenen sechzehn Jahren zunehmend an Bedeutung.
Zu Beginn meiner psychotherapeutischen Tätigkeit, als noch weniger erfahrene Therapeutin, hatte ich manchmal den Eindruck, dass die von mir gewählten und gesprochenen Worte bei einigen Klientinnen auf wenig Vertrauen stießen. Wie vielfältig meine Anstrengungen, das „genaue Wort“ (Domin, 1997) zu finden auch waren, meine Klientinnen konnten sich offensichtlich nicht in Beziehung zu mir und zu meinen Begriffen in Bezug setzen. Es schien, als hätten sie den Glauben an die Menschen und die alltäglich verwendete Sprache verloren. Je öfter ich diese Erfahrung machte, desto mehr wurde ich angeregt, mich selbst mit meiner Beziehung zur Sprache vertieft auseinanderzusetzen.
Im Jahr 2001 habe ich zum ersten Mal eines meiner Gedichte verwendet, um Menschen dabei zu unterstützen, ihre Körperempfindungen wieder wahrzunehmen und sich von anderen Menschen neu berühren zu lassen.
In einer Situation völliger Ratlosigkeit entschloss ich mich spontan während eines Erstgespräches ein Gedicht vorzulesen. Es gelang mir, mit meiner Klientin über das Gedicht wieder in Kontakt zu treten und sie aus ihrer Selbsthypnose herauszuholen. Seit diesem Tag erweitert die Arbeit mit Gedichten meine therapeutischen Möglichkeiten, Menschen in und durch die Sprache auf verschiedenen Ebenen in einen integrierten Zustand zu bringen. Im Hören von Gedichten bei Menschen mit traumatisierenden Erfahrungen ermöglicht es Klient(inn)en in spielerischer Form ihre Körperempfindungen wahrzunehmen, Emotionen zu benennen und sich neuen Denkräumen zu öffnen, ganz im Sinne einer poetische Welterschließung. Schrott (2011, S. 384) drückt es pointiert mit folgenden Worten aus: “Vision seziert, Audition inkorporiert“.
Manchen Klient(inn)en gelingt es mit der Sprache, so wie Heidegger (2001) sie versteht, durch Gedichte neue Erfahrungen in der Sprache zu machen. Um mit den Worten Celans (2000) zu sprechen: Zuweilen gelingt es mit ihnen, „ein Land zu finden“, ein „ansprechbares Du“. Der Dichter hat in seiner Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen seine Gedanken zum Gedicht in folgende Worte gefasst:
Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. (Celan, S. 185-186).
Ausgehend von Siegels These (2012), dass sich die Seele durch das Zusammenspiel von Körper, Gehirn und Beziehung zeigt, möchte ich Sie einladen, mein nachstehendes Gedicht als Experiment sich oder jemand anderen laut vorzulesen (Schrott, 2011, S378-383):
Anklang und Widerhall
Bist du bereit?
Ich rezitiere Gedichte,
manchmal für mich allein.
Ich rezitiere Gedichte
und lade dich dazu ein.
Ich rezitiere Gedichte
und höre mir zu
und wenn und wenn
es geschieht,
dass eine Zeile
mein Tiefstes berührt,
wird meine Seele weit
und still und still
durchdringt sie den Raum
und dann und dann
hör ich sie rufen:
Bist du bereit,
bist du bereit?
(Daniela Hofmann, unveröffentlicht 2017), Angeregt durch „Anklang und Widerhall“ (J.-L. Nancy, 2014)
Benn (2000) beendet sein Gedicht mit den Worten:
“… und wieder Dunkel ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.“
Benn nennt seine Erfahrung mit dem Wort einen „Flammenwurf“ und „Sternenstrich“, ehe die Welt (nach dem Erlöschen des Wortes) samt dem Ich wieder ins Dunkel wegsinkt. Die Erfahrungen des Dichters mit dem Wegsinken des Wortes zeugen in eindrücklicher Weise von der Notwendigkeit des Wortes und vermitteln in dichterischer Sprache auch eine der möglichen schmerzlichen Folgen für Menschen mit Traumata. Diese werden von Klientinnen in der therapeutischen Begegnung bestenfalls in bruchstückhaften Erzählungen voller Widersprüche und über Symptome kommuniziert und geben so einen ersten Hinweis auf deren Erlebnisse.
Wo etwas Gewaltiges nicht in Form der Erzählung während der Therapie zur Sprache kommen konnte, begegneten mir die Erfahrungen der KlientInnen häufig in Form von Symptomen. Wer auf diese Weise schweigt, kann seine Erfahrungen weder in Worte fassen, noch – so meine Annahme – weiter seinen Aufenthalt in der Sprache als dem „Haus des Seins“ wahrnehmen. Obwohl der Mensch nach Heidegger seinen Aufenthalt in der Sprache nicht verlieren kann, bleibt die Lichtung des Seins durch ein Symptom verstellt.Durch mein eigenes Schreiben von Gedichten begann ich mich intensiv auch mit der etymologischen Bedeutung von Worten zu beschäftigen. Dabei stieß ich auf die Sprachphilosophie von Whorf (1999) und Humboldt (2003). Letztendlich war es nur mehr eine Frage der Zeit, bis ich auf den Satz von Heidegger traf: „Die Sprache spricht“ (2001, S. 254-255).
Welchen Beitrag kann die Sprachphilosophie von Heidegger zum Wesen der Sprache und der Wirksamkeit von Gedichten bei Menschen mit traumatisierenden Erfahrungen leisten?
Als Ausdrucksmittel innerer Bilder, als Kommunikations- und Informationsmittel war mir der Umgang mit der Sprache wohl bekannt. In der Sprache, im Sinne Heideggers, „eine Erfahrung machen“ (2001 S 159), war für mich neu und könnte vielleicht auch für die meisten Klienten und Klientinnen eine neue sprachliche Erfahrung sein.
Der Begriff „Erfahrung“ wird in diesem Artikel im Sinne Heideggers (2001) verwendet und bezieht sich auf die Erfahrungen des Menschen mit dem Wesen der Sprache. So bedeutet „eine Erfahrung mit dem Wesen der Sprache machen“ bei Heidegger (2001, S 159), „[...]dass es uns widerfährt, dass es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt[…]“. Nicht wir machen eine Erfahrung, nicht wir sind aktiv, bewerkstelligen sie durch uns; „machen heißt hier: durchmachen, erleiden, das uns Treffende empfangen, insofern wir uns ihm fügen [...]“ (Heidegger, 2001, S.159).Mit dem Wesen der Sprache eine Erfahrung machen, hieße dann: „[...] uns vom Anspruch der Sprache eigens angehen lassen, indem wir auf ihn eingehen, uns ihm fügen. Wenn es wahr ist“, schreibt Heidegger weiter, „dass der Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat, unabhängig davon, ob er es weiß oder nicht, dann wird eine Erfahrung, die wir mit der Sprache machen, uns im innersten Gefüge unseres Daseins anrühren“ (ebd.).
Zum besseren Verständnis, was Heidegger damit meint, mit dem Wesen der Sprache eine Erfahrung zu machen, sind hier zwei Beispiele genannt:Sie gehen am Strand spazieren, hören das Plätschern der Wellen und spüren den Sand durch ihre Zehen rieseln. Sie heben einen Lavastein auf, schwarz und rau, mit winzigen Löchern. Sie heben ihn auf …Sie können nun durch seine konkrete Form und wilde Schönheit angesprochen sein, vielleicht haben Sie auch ein spezifisches Interesse an diesem Gestein oder Sie antworten einem Anspruch aus dem eigenständigen Anwesen des Seins ent-sprechend, wie Heidegger sagen würde.Vielleicht können Sie etwas über seine Verweildauer am Strand aussagen, über die Tiere, die in seinen Löchern gelebt haben oder wie alt der Stein ist. Der Anspruch, der aus dem alleinigen Anwesen des Steins ergeht, kann vielfältig sein, letztendlich obliegt es dem Menschen, auf welche Weise er diesen Stein wahrnimmt. Ohne auch noch ein Wort verlautbart zu haben oder sich jemanden mitgeteilt zu haben, stehen die Menschen bereits im zweifachen Bezug zum „Sein“ des Steins. (Was nichts darüber aussagt, wie der Stein tatsächlich aussieht.)Noch deutlicher wird unser Bezug zur Sprache dort, wo wir das passende Wort laut Heidegger nicht finden können.
Wer von Ihnen hat im Alltag noch nicht Augenblicke erlebt, wo wir das rechte Wort nicht finden, wo uns vor Staunen der Mund offenbleibt oder wir vor Schreck die Sprache verlieren und das Erlebte uns zum Verstummen bringt?
Stellen Sie sich folgende Situation vor:Sie betrachten mit einem geliebten Menschen zum ersten Mal den Sonnenuntergang auf Kap Sunion. Die Sonne, ein rotgelber Ball am Horizont, versinkt langsam im Meer. Sie möchten in Worte fassen, was sie bewegt und wovon sie sich angesprochen fühlen. Doch es ist Ihnen nicht möglich, die passenden Worte für Ihr Erleben und dieses Naturphänomen zu finden, geschweige denn mitzuteilen.Gerade in solchen Momenten kann sich uns der Zusammenhang von Wort, Ding und Sein erhellen und uns unter die Haut gehen.Heidegger (2001, S. 181) beschreibt mit dem Gedicht von Stefan George einen solchen Augenblick:
Das Wort
„So lernt ich traurig den verzicht:
Kein ding sei wo das wort gebricht.“ (George, 1968, S. 467)
Heidegger interpretiert das „sei“ als Imperativ: „Sei!“ Er erläutert weiter, dass erst dort, wo das Wort zerbricht, d. h. das verlautende Wort in das Lautlose zurückkehrt, eine denkende Erfahrung mit dem Wesen der Sprache möglich wird: Den Bedeutungen wachsen Worte zu!
Wie unterscheiden sich nun die von mir gewählten Beispiele, die die meisten von uns schon einmal erlebt haben, von den Erfahrungen mit dem Wesen der Sprache bei Menschen, die Gewalt erlebt haben?
Erst einmal verschlägt es uns zwar die Rede, aber unser Selbst- und Sein-Verständnis bleibt gewahrt. Nach einiger Zeit finden wir die passenden Worte für unser Erleben, können die Phänomene benennen und uns anderen Menschen wieder mitteilen.Bei Menschen mit einem oder mehreren traumatisierenden Erfahrungen können diese einen Bruch im Menschen, seiner Bindung zur Welt und seinen Mitmenschen bewirken. Ohne zu wissen, dass sie in solchen Situationen auf eine tiefere Bedeutung von Welt zurückgreifen, drücken sie das Erlebte häufig mit den Worten aus: „Eine Welt ist zusammengebrochen“. (Häufig verwendete Formulierungen sind auch: Es kam zum Bruch, sie ist wortbrüchig geworden, etwas in mir ist zerbrochen.) Welt in diesem Sinne kann sich meiner Ansicht nach nicht auf die uns umgebende Welt der Dinge und Lebewesen beziehen, kann nicht lebende oder tote Materie bezeichnen.Werden wir nicht gerade in solchen Momenten von der Erfahrung mit der Sprache bewegt, erschüttert und angesprochen?
Wird dadurch nicht manchmal unser Weltbild, unser Wertesystem und unsere Fähigkeit zu einer befriedigenden Beziehungsgestaltung grundlegend in Frage gestellt? Was ist also dann gemeint?
Zerbricht für einen Menschen seine Welt, kann er das Wesen der Sprache nicht mehr wahrnehmen. Er findet nicht nur keine Worte mehr für das ihm Begegnende, das Erleben seiner selbst und des ihm Begegnenden wird eingeschränkt. Nach und nach kommt es zu einer Einschränkung des freien Weltbezuges. Er kann sein Leben nicht mehr in seinem eigensten Offensein gestalten. Jene offene Weite, von der Heidegger als „Da-sein“ spricht, ist diesen Menschen nicht mehr zugänglich. Alles, was ist, spricht sie nicht mehr an, ein „Wohnen“ in dieser Weite ist nicht mehr erlebbar. Um diese Bruchspalte wieder schließen zu können, bedarf es einer heilenden Erfahrung durch das verlautbarte Wort und in der Sprache.
„Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“
(Hölderlin, 2001,S. 341)
Dieses Kapitel beginnt mit einigen der Orte, von denen Heidegger sowie einige Dichter und Dichterinnen des 20. Jahrhunderts aufgebrochen sind, um mit der Sprache eine Erfahrung zu machen.
Als Ausgangspunkt der Reise, angeregt durch Heidegger`s Beobachtungen und Behauptungen, werden zwei Fragen vorangestellt:
Wofür braucht der Mensch das Sprechen und die Sprache als „Haus des Seins“, um Wirklichkeit entwerfen zu können?
Was geschieht mit dem Wesen der Sprache angesichts traumatisierender Ereignisse?
Celan (2000, S. 185-186) schreibt dazu anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Stadt Bremen 1958: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, 'angereichert' von all dem [...]“.
Heideggers Weg wird an jenem Ort enden, von dem der Denker sagt, dass „wir heimisch werden möchten, um den Aufenthalt für das Wesen des Menschen zu finden.“(Heidegger, 2001, S. 13).Der Philosoph beginnt mit der Frage, was „sprechen“ heißt, und stellt fest, dass Sprechen in der herkömmlichen Meinung eine Betätigung der Werkzeuge der Verlautbarung und des Gehörs sei. Er distanziert sich von Aristoteles Umgrenzung der Sprache als Aussage, da diese Sprachauffassung seiner Meinung nach einer Reduzierung derselbigen auf eine Zeichengebung gleichkomme: „Es ist nun das, was in der stimmlichen Verlautbarung sich begibt, ein Zeigen von dem, was es in der Seele an Erleidnissen gibt, und das Geschriebene ist ein Zeigen der stimmlichen Laute“ (ebd., S. 244).
Diese metaphysische Auslegung der Sprache in der abendländischen Philosophie macht Heidegger nicht nur mitverantwortlich für die wissenschaftlich-technische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, sondern auch für die Notwendigkeit, der Sprache wieder auf den Grund zu gehen. „Eine seltsame Sache, oder gar eine unheimliche Sache, dass wir erst auf den Boden springen müssen, auf dem wir eigentlich stehen“ (Heidegger, 1967, S. 26). Auf der Suche nach einer erfahrbaren Wirklichkeit in einer zunehmend technisierten und vergesellschafteten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten Dichter(innen) und Denker(innen) gleichermaßen eine Sprachkrise. Diese Krise führte bei den Dichter(inne)n zu einer Neubewertung der Lyrik sowie einer Neuorientierung im Bezug von Mensch und Welt im Gedicht. In einer Zeit, in der sich viele Autor(inn)en gezwungen sahen, in einer Sprache zu schreiben, die durch die Verwendung des NS-Regimes abgegriffen und verletzt worden war (es sei in diesem Zusammenhang nur auf den Begriff „Sonderbehandlung“ hingewiesen, der für die Ermordung von Millionen Menschen verwendet worden ist), bewirkte die aus der Sicht Heideggers zunehmende Instrumentalisierung der Sprache bei ihm einen konsequenten Rückzug auf die Frage nach dem Wesen der Sprache sowie einen sprachphilosophischen Aufruf nach einer grundlegenden Erneuerung der Sprache. Es gilt, sich aus der vorherrschenden subjektivistischen Sprachauffassung zu befreien und die Sprache (Sprachwesen) als Sprache (Sage) zur Sprache (im verlautenden Wort) zu bringen. Diese selbstreflexive, zirkuläre Verdreifachung ermöglicht es Heidegger, die Sprache nicht mehr zu einer Erfindung des Menschen zu machen, geschweige denn zu seinem Besitz. Der von Heidegger beschrittene Weg führt zu einem Sprachverständnis, das von jener Sprachauffassung abweicht, die vor allem Lebensbereiche betrifft, welche von der Sprache der Computertechnologie und Informatik geprägt sind. Wie er weiters zu zeigen versucht, wird die Sprache zu einem Phänomen, welches dem menschlichen Sprechen seinen eigentlichen Grund gibt.
Er postuliert, dass sich das Eigentümliche der Sprache demnach im Weg zeige, als welcher die Sage, durch die auf sie Hörenden zur Sprache gelangen kann. In seinem Verständnis wird der Mensch als Botengänger der Sage in Anspruch genommen und kann, da er selbst in die Sprache eingelassen ist, entsprechend auf seine Weise, antworten. An dieser Stelle möchte ich einen Bogen zu Luhmann spannen:
Gilt bei Luhmann (1984) die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen als basales Element von Interaktion, aus deren emergenten Eigenschaften Kommunikation erst erklärbar wird, könnte bei Heidegger (2001) die Weise menschlichen Sprechens ihren eigentlichen Grund aus den emergenten Eigenschaften von Mensch und Sprachwesen beziehen. Je nach Art der strukturellen Koppelung könnten diese auch in der Sage beobachtbar werden. Nach Heidegger (2001, S. 257) ist die Sage das Zeigen: “In allem das uns anspricht, was uns als Besprochenes und Gesprochenes trifft, was sich uns zuspricht, was als Ungesprochenes auf uns wartet, aber auch in dem von uns vollzogenen Sprechen waltet das Zeigen […]“.Wie in Luhmanns Theorie der sozialen Systeme (1984) die Menschen nur insofern von Bedeutung sind, wenn sie zur Herstellung und Fortsetzung von Kommunikation beitragen, erhält bei Heidegger der Mensch als Subjekt erst dann seine Bedeutung, wenn er zum Botengänger der Sprache wird. Heidegger sieht es als eine ständige Prüfung des Menschen, inwieweit er der Sprache entspricht: „Alles beruht darin, das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen“ (Heidegger, 2001, S. 31).
Ich möchte anhand eines Beispiels bei Heidegger seinen Gedankengang verdeutlichen. Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie gehen über eine Wiese und sehen auf einem Hügel eine alte Eiche stehen. Sie haben nun die Wahl: Einerseits können Sie die Höhe des Baumes abmessen, sein Alter bestimmen oder einfach seine Schönheit bewundern. Sie können sich auch überlegen, ob Sie sich für den nächsten Winter sein Holz nutzbar machen möchten. Wie immer Sie sich auch entscheiden, nach Heidegger hätten Sie sich von der Form der Eiche, ihrem Nutzwert, u.ä. angesprochen gefühlt und sich vielleicht in ihrem Schatten niedergelassen. Den Lesern und Leserinnen ist es freigestellt, wie sie sich vom Erscheinenlassen des Baumes ansprechen lassen. Für mich verweist der Baum auf Schatten spenden, auf Werden und Vergehen und ... (Sie sind eingeladen, bei sich zu hören, wovon Sie sich angesprochen fühlen und wie Sie entsprechend antworten würden.).
Der Denker führt nun einen geheimnisvollen Namen ein, mit dem er nicht nur das Verhältnis des Menschen zum Wesen der Sprache erläutert, sondern auch das Verhältnis zwischen Himmel, Erde, Mensch und Gott. In der Verbundenheit von Mensch und Sprache ereignet sich ein Angesprochenwerden, welches so auf die Grundstruktur des Wesens der Sprache hinweist. In diesem Sinne spricht es als das Ereignis, indem es etwas in sein Eigenes bringt. Heidegger nennt dieses Zeigen von Seiendem als Anwesen in der Welt lichtend -verbergend.
Ein Ereignis wird bei ihm allerdings nicht als ein Geschehen oder gar ein aktives Tun aufgefasst, sondern als ein Gewährenlassen. Im Gewahrsein des Je-Eigenen vollzieht sich für den Menschen der Aufenthalt in seinem Wesen, sodass er nun vermag, ein Sprechender zu sein. Vergleichbar vielleicht mit dem Satz: „Zur reinen Quelle zurückgehen“, mit dem, nach der Interpretation des Zenmeisters Karl Obermayer (2004), „ein Innewerden unserer letztendlichen Seinswirklichkeit“ gemeint ist. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass Heidegger selbst den Weg zur Sprache in Bezug zum Tao im dichtenden Denken des Laotse stellt und kritisiert, dass das Leitwort Laotses oftmals als Vernunft, Geist, Raison, Sinn und Logos übersetzt wird.
Mit dem oben angeführten Beispiel unterlegt Heidegger den Ausgangspunkt seiner Sprachphilosophie als einen Ort, an dem die Trennung von Mythos und Logos noch nicht vollzogen war (1967). In seinem Vortrag „Was ist Denken“ (1967) schreibt er dazu: „Mythos heißt bei den Griechen das sagende Wort. Sagen ist für die Griechen: offenbar machen, erscheinen lassen, nämlich das Scheinen und das im Scheinen, seiner Epiphanie, Wesende (...) Der Mythos ist der alles Menschenwesen zuvor und von Grund aus angehende Anspruch, der an das Scheinende, an das Wesende denken läßt. Zu dieser Zeit sind Mythos und Logos noch nicht voneinander getrennt" (S. 16).
Die Nachbarschaft von Dichten und Denken in Heideggers Sprachphilosophie kann für Menschen mit (Bindungs-)Traumatisierung die Möglichkeit eröffnen, denkend in den ursprünglichen Bezug des Menschen zur Sprache zurückzugelangen. In „Was ist Denken“ schreibt Heidegger dazu: „Das Dichten ist darum das Gewässer, das bisweilen rückwärts fließt - der Quelle zu, zum Denken als An-denken“ (S. 12). Heidegger versteht unter „denken“ das Hören der Zusage, die uns sagt, was es zu denken gibt. Nicht gemeint ist ein Denken im Sinne des abendländischen Denkens, welches im Wort „logos“ mündet und sich auf das Verhältnis von Ding und Wort bezieht.Mit der folgenden Abbildung möchte ich versuchen, das bisher Geschriebene nochmals zu verdeutlichen:
Abbildung 1. Vollzugsidentiät und Verhältnis zum Wesen der Sprache vor und nach einemTrauma
Arbeitshypothese
Ein Gedicht ist eine Ressource, die durch Melodie und Rhythmus, Wort und Bild Orientierung und Verbindung in einer fragmentierten Erzählung herstellen kann. Wo es in der Sprache zu „Rissen und Brüchen“ bis zur Sprachlosigkeit des Menschen kommt, kann im dichterischen Wort unter der besonderen Betonung der verstandesmäßig nicht einholbaren stimmungshaften Grundschwingung ein Bewandtniszusammenhang als ein solcher offenbar gemacht werden. (Heidegger, 1993)
Peter kam an einem heißen Sommertag zu mir in die Praxis. Anzug und Hemd hatten eine genaue Passform und ich hatte den Eindruck, dass er es gewohnt war, mit seinem bloßen Erscheinen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Er trug eine Brille, seine Augen wirkten auf mich ausdrucksstark und trotz der Intensität seines Blickes erschien er mir in Bezug auf meine Person eher überwachsam zu sein als mir tatsächlich zugewandt. Er begann unser Gespräch mit den Worten: “Ich halte nicht viel von Psychotherapie, letztendlich muß sich jeder selbst helfen, aber mit 3 bis 5 Coaching-Stunden bin ich einverstanden“.
Gleich zu Beginn gab er mir zu verstehen, dass er keinesfalls bereit war, über seine Kindheit und Jugend zu sprechen. Er hält nichts von der Meinung, dass unsere Erfahrungen mit den Eltern Einfluss auf das Leben eines Erwachsenen haben könnten, erzählte er. Ich fragte mich, wie er das so sicher behaupten konnte, äußerte diese Frage jedoch noch nicht. Er meinte, er habe ein konkretes Anliegen, welches er mit mir besprechen wolle, da er merke, er komme alleine zu keiner Entscheidung. Ich erwartete, dass er weitersprechen würde, doch Peter entschied sich zu schweigen. Offensichtlich wartete er auf etwas Bestimmtes von mir! Ich merkte, dass sich mein oberer Rücken versteifte, ich schützte mich und spontan dachte ich mir: „Werde ich hier getestet?!“
Ich nahm einen tiefen Atemzug und atmete lange aus, bevor ich ihm zusicherte, dass ich zumindest für den Beginn unserer eventuellen Zusammenarbeit seinen Wunsch, in der Gegenwart zu bleiben, respektieren würde. Peter lächelte leicht und begann, mir von seiner momentanen Lebenssituation zu erzählen. Er sei seit eineinhalb Jahren mit einer Frau liiert und er überlege, sie zu heiraten. Seine Freundin habe eine 8 Jahre alte Tochter, welche ein liebes Kind sei. Er selbst wollte keine leiblichen Kinder. Wäre ihr Kind ein Junge, dann würde er eine Heirat sicher nicht in Erwägung ziehen, meinte er. Meine Frage, wie er sich diese Entscheidung erkläre, beantwortete er damit, dass er glaube, mit Mädchen tue er sich leichter. Er berichtete, noch nie verheiratet gewesen zu sein, und ich erfuhr, dass er bereits 47 Jahre alt war. Peter beschrieb sich als einen erfolgreichen Baumeister, der beruflich engen Kontakt mit seinem Vater hält und viel arbeitet. Seine Aussagen über seine Freundin fasste er kurz und prägnant mit einem Satz zusammen: „Bodenständige Frau und eine Mutter, die sich gut um ihre Tochter kümmert, außerdem finanziell unabhängig.“ Auf meine Frage, was ihn denn zögern ließe, gab er mir zur Antwort, dass er sich nicht sicher sei, ob er bereit sei, für einen Menschen Verantwortung zu übernehmen und man sich ja auch nicht sicher sein könne, ob der andere einen tatsächlich liebe … Zum ersten Mal in unserem Gespräch konnte ich bei Peter eine leichte Veränderung im Tonfall und seiner Körperhaltung wahrnehmen. Es schien ihm sichtlich unangenehm, dass er sich nicht mehr ganz im Griff hatte, und er sagte forsch: „So, jetzt sind Sie dran.“ Ich begann damit, ihm Anerkennung zu zollen, dass er mir kurz und prägnant seine jetzige Situation zusammengefasst hatte. Er bestätigte mir sofort, dass es eine Stärke von ihm sei, strukturiert etwas besprechen zu können, denn Zeit sei in seiner Branche Geld!
Ich entschied mich, ihm meine Eindrücke und Ideen in Form einer Metapher nahezubringen. Da Peter aus der Baubranche kam, wählte ich als Analogie eine Situation aus seinem Arbeitsleben, in der Hoffnung, dass er für sich eine Verbindung zu seinen Themen herstellen konnte. Peter hörte sich meine Metapher an, meinte, er werde darüber nachdenken, und willigte ein, wiederzukommen.
In den folgenden Stunden sprach Peter über seine Gedanken zum Thema Verantwortung übernehmen. Ich erfuhr, dass seine Mutter schon vor 30 Jahren verstorben war und er sie tot aufgefunden hatte. Die Beziehung zwischen seinen Eltern war bis zu ihrem Tod geprägt von heftigen Streitigkeiten, bei denen ihn der Vater meist in den Garten geschickt hatte. Erst nach Ende des Streites durfte er wieder in das Haus zurück, wo er meist eine weinende Mutter und einen schweigenden Vater vorfand. Er beschrieb seine Mutter als eine weiche Frau, zu sanft für seinen Vater. Häufig ergaben sich aus der Weichheit der Mutter ihm selbst gegenüber auch Streitsituationen mit dem Vater, der meinte, sie verzärtle seinen Sohn. Peter verbrachte schon als 4-Jähriger gemeinsam mit ihm einen Teil seiner Freizeit mit sportlichen Aktivitäten, damit er, nach seines Vaters Ansicht, für das Leben richtig vorbereitet werde. Seine Mutter konnte diesen oft strapaziösen Aktivitäten nichts entgegensetzen und Peter meinte, dass sein Vater seine Mutter für ihre Schwäche verachtet habe. Verantwortung übernehmen, so schlussfolgerte er, heißt vor allem, eine Last zu übernehmen, wenn ein Teil der Familie schwach ist. Meine Frage, wie er aus seiner Sicht die Situation erlebt habe, beantwortete er ausweichend und mit der abschließenden Bemerkung, dass es heute keinen Sinn mache, sich damit zu befassen. Das sei alles schon Jahrzehnte her und man könne es nicht ungeschehen machen.
Peter bewunderte seinen Vater offensichtlich für seine Stärke und hatte bis heute dessen Konzept zum Thema Verantwortung noch nie in Frage gestellt. Perspektivenwechsel oder systemische Fragen meinerseits wurden immer wieder als Angriff auf seinen Vater gewertet und ich spürte immer öfter den Impuls, mich für meine systemische Herangehensweise zu rechtfertigen. Denn Peter argumentierte wortgewandt gegen meinen Perspektivenwechsel und zeigte viel Verständnis für das Verhalten seines Vaters.
Als er sein zweites Anliegen für die Gespräche mit mir thematisierte, begann er sich die Augen zu reiben und sagte mit einem Seufzer: „Damit Sie mich besser verstehen, möchte ich Ihnen doch eine Geschichte aus meiner Jugend erzählen. - Ich habe mich im Jahr der Matura zum ersten Mal in ein Mädchen aus der sechsten Klasse verliebt. Nach der Matura sollte ich mit dem Studium beginnen. Ich war frisch verliebt und hatte einen schönen Sommer. Am Ende des Sommers informierte mich mein Vater, dass er sich mit meiner Freundin getroffen hatte, um ihr zu sagen, dass sie mich nicht mehr wiedersehen dürfe. Ich solle mich ab Herbst ganz auf mein Studium konzentrieren, da sei eben keine Zeit für eine Liebschaft.“ Wider seiner üblichen Berichterstattung hatte Peter in der Ich-Form erzählt, es fiel ihm sichtlich schwer, mir von dieser Erfahrung zu berichten.
Ich fragte ihn, wie er das Verhalten seines Vaters damals erlebt hatte. Peter sah mich erstaunt an und meinte nur, das sei seinem Vater doch zugestanden, schließlich habe er ihm doch alle seine Interessen ermöglicht und auch noch das Studium bezahlt. Seine Enttäuschung galt ganz alleine seiner damaligen Freundin Julia. Wenn sie ihn wirklich geliebt hätte, dann hätte sie sich gegen seinen Vater durchgesetzt und sich geweigert, dessen Verbot zu akzeptieren. Ich glaubte, mich verhört zu haben, und fragte sicherheitshalber nochmals nach, ob er tatsächlich gedacht hätte, dass es die Verantwortung von Julia gewesen wäre, diese Auseinandersetzung zu führen. Mein Nachfragen verärgerte ihn offensichtlich und Peter begann wie gewohnt, die Handlungen seines Vaters zu rechtfertigen. Dabei wurde er immer wütender und heftig brach es aus ihm heraus: „Nicht einmal verabschiedet hat sie sich von mir!“ Auch mit meiner nächsten Frage, ob denn er damals mit ihr Kontakt aufgenommen habe, löste ich eine heftige Reaktion bei Peter aus. Er knurrte, dass er sich heute überhaupt nicht von mir verstanden fühle. Und nein, natürlich habe er sich nicht mehr bei ihr gemeldet…
Wir beendeten die Stunde mit einer massiven Verärgerung seitens Peter und einer Unzufriedenheit meinerseits über den Verlauf der Stunde.
Für mich zeigte sich immer mehr, dass Peter eine starke Täterloyalität hatte und sich an den Verhaltensweisen und Überzeugungen seines Vaters orientierte. Ich entschied mich, ihm in der nächsten Stunde mitzuteilen, dass ich nochmals mit ihm über die Rahmenbedingungen sprechen möchte. Ich wollte ihm mitteilen, dass ich ein weiteres Coaching für nicht hilfreich erachtete und ihm vorschlagen würde, stattdessen einen kurzen Überblick über das Thema Trauma und seine Auswirkungen zu geben. Danach könne er entscheiden, ob er bei mir weitermachen möchte.
Am Nachmittag nach dieser Sitzung mit Peter erfasste mich eine innere Unruhe und ich begann, die Notizen aus unserer Stunde nochmals durchzulesen. Vor meinem inneren Auge erschien die Heftigkeit, mit der er mich an seiner Liebesgeschichte teilhaben ließ, und seine Verärgerung mir gegenüber. Beides löste bei mir wieder ein Gegengefühl im Hals aus und ich verspürte eine Anspannung. In meinem Ohr erklang nochmal sein Seufzer und ich wurde traurig. Ich begann mich zu fragen, ob ich mich in der Stunde vielleicht geirrt hatte, als ich seinen Seufzer seiner Entscheidung, mir doch etwas aus seiner Vergangenheit zu erzählen, zuordnete. Ich notierte meine Wahrnehmungen mit der Überlegung, ihm dies das nächste Mal mitzuteilen. In den nächsten Tagen spürte ich verstärkt eine innere Aufregung, die mir bereits seit der Zeit, in der „mich Gedichte schrieben“, vertraut war. Ich hielt also Papier und Stift bereit, um alles rasch notieren zu können, was aus meinem Inneren an Worten aus mir heraus drängte. In den darauffolgenden Wochen formte sich ein Gedicht, das ich meinem in der nächsten Sitzung nach der Traumaaufklärung vorlesen wollte.
Einige Tage nach Abschluss des Gedichteschreibens kam Peter für eine weitere Sitzung. Ich fragte Peter, ob er wissen wollte, was mich in und nach der letzten Stunde noch so bewegt hatte. Er war sichtlich neugierig und bejahte es. Ich sagte ihm, dass ich es bedauerte, ihm nicht das Verständnis gegeben zu haben, welches er sich letzte Stunde erhofft gehabt hatte. Ich teilte ihm meine körperlichen Reaktionen mit und meine plötzliche Trauer über seine Liebesgeschichte nach unserer Stunde. Danach informierte ich ihn von meiner Entscheidung, ihm vorerst kein weiteres Coaching anzubieten, sondern ihn heute über das Thema Trauma und dessen Auswirkungen aufzuklären.Wenn dann noch Zeit bliebe, würde ich ihn einladen, mich auf eine Reise in seine Vergangenheit zu begleiten. Peter kommentierte meine Äußerungen nicht, lehnte sich zurück und sagte: „Lassen Sie mich hören.“ Zwischendurch stellte er einige Verständnisfragen, wirkte an den Inhalten interessiert, vermied aber weitgehend Blickkontakt. Er äußerte sich abschließend anerkennend zu meinem fachlichen Wissen, um mir dann zu sagen, dass er sich das Gehörte noch durch den Kopf gehen lassen werde. Ich nahm seine Antwort zur Kenntnis und fragte ihn, ob er noch bereit wäre, die Stunde mit einer Zeitreise abzuschließen. Er bejahte und ich rollte das farbige Papier, auf dem das Gedicht stand, sachte auf. Ein letzter Blick auf Peter und ich begann langsam zu lesen, hielt manchmal inne und wiederholte die eine oder andere Zeile.
Ballade: Mann ohne Geschichte
Als er mit achtzehn Jahren
ein Mädchen liebte sehr,
da ruft der Vater sie und spricht:
„Mach Schluss mit ihm auf mein Begehr!“
Des Vaters Stimme längst im Ohr,
hält unser Junge still.
"Wer Geld hat, der schafft an, mein Sohn,
du machst es so, wie ich es will.“
An einem lauen Sommertag
bleibt Mutters Tür versperrt.
Er tritt sie ein und findet sie,
ganz kalt wird ihm ums Herz.
Des Vaters Stimme dringt ans Ohr:
„Hast nichts gehört, hast nichts gesehen.
Wer nichts bewahrt und nichts behält,
braucht weder Red noch Antwort stehen!“
Und wieder schont des Sohnes Treue
des Vaters schleichend Lebensgift.
Jetzt hört der Junge auf zu leben,
zu viel hat er gesehen,
zu oft sich ihm ergeben.
So geht er einsam seinen Weg,
wohl reich und auch bewundert,
doch lässt er andre für sich leben:
Wer sich nicht spürt,
kann sich auch nichts vergeben.
Es hat die Liebe für den Vater
den Jungen weit von sich entfernt,
nun sucht er fern von seinem Haus,
das Selbst, das einst zu ihm gehört.
Er irrt herum und kann nicht finden,
den Urcharakter, der ihn nährt. Im Angesichte der Entfremdung
bleibt ihm der Weg zum Selbst versperrt.
Als er nach 30 Jahren ein Mädchen liebte sehr,
trotzt er des Vaters Lebenselixier.
Bereit folgt er der eignen Stimme und
nimmt sich selbst nun ins Visier.
(Daniela Hofmann, unveröffentlicht 2003)
Meine Augen waren auf das Blatt gerichtet, ich war mir nicht sicher, wen ich damit schonen wollte, jedenfalls hatte sich die Atmosphäre im Raum seit Beginn der Stunde merklich verändert. Als ich die letzte Zeile beendet hatte, wartete ich noch ein wenig, bis ich wieder Blickkontakt herstellte. Es war still im Raum und als ich die Augen auf Peter richtete, sah ich seine linke Hand in der Herzgegend liegen und oberhalb des Hemdrandes zeigten sich an seinem Hals dunkle rote Flecken. Ich spürte ein kleines Unbehagen in mir aufsteigen und war beunruhigt darüber was nun kommen würde.
Peter sah mich lange an, mir schien, als würde er mich zum ersten Mal wahrnehmen, schluckte schwer und sagte für mich völlig unerwartet: „Ich kann nicht glauben, dass Sie sich auch außerhalb der Stunde mit mir befassen und sich Zeit nehmen, ein Gedicht zu schreiben.“ Er machte eine kurze Pause, um mir dann tatsächlich vorzuschlagen, meine Zeit für dieses Gedicht abzugelten.Ich rollte das Blatt wieder ein, wickelte das Band herum und sagte ihm, das Gedicht sei als Geschenk an ihn gedacht – wenn er es haben möchte. Er könne mir auch die Zeit nicht finanziell abgelten, weil Gedichte zu schreiben meine Möglichkeit sei in Resonanz zu gehen auf das, was ich höre, sehe und spüre. „Es ist nichts“, so sprach ich weiter, „was ich mir ausgesucht habe, die Worte kommen aus mir heraus und ich habe nur die Wahl, sie aufzuschreiben oder zu ignorieren“.Peter nahm die Rolle entgegen, öffnete sie und begann, das Gedicht still selbst zu lesen. Danach faltete er es zusammen und steckte es behutsam in seine Hemdtasche – um danach wieder seine Hand darauf zu legen.Schweigend saßen wir uns nun gegenüber, bis ich mich räusperte. „Ich möchte Sie um etwas bitten“, sagte ich. “Wenn Sie das Gedicht mit nach Hause nehmen und sich entscheiden wiederzukommen, hätte ich gerne, dass wir das nächste Mal darüber sprechen, was Sie mit diesem Gedicht gemacht haben und was Sie dabei an sich beobachten konnten.“ Peter hatte sich inzwischen wieder gefasst, nickte und antwortete: “Mach ich.“
Per SMS bat mich Peter um den nächsten Termin. Als er bei mir 14 Tage später in der Praxis erschien, konnte ich kaum meinen Blick von seinem Hals und Kinn wenden. Er begrüßte mich mit den Worten: „Na schauen Sie, was mit mir geschehen ist, so hab ich das letzte Mal in der Pubertät ausgeschaut.“ Peter hatte in den Tagen nach der letzten Sitzung eine Akne entwickelt und es hatte den Anschein als wäre er darüber fast ein wenig belustigt. Er wirkte gelöster und fing gleich an mir zu erzählen, dass er noch am Tag der Sitzung seiner Freundin die Ballade vorgelesen habe. Peter sagte mir, er habe sich danach ein Herz gefasst und mit Eva, so hieß sie, begonnen, alte Fotos anzusehen. Dabei sei ihm ein Brief seiner Mutter in die Hände gefallen, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Er habe ihn mitgebracht und wolle mir diesen Brief vorlesen. Peter las und seine Stimme war belegt. Ich erfuhr in diesem Brief, dass seine Mutter keine Kraft mehr gehabt hatte, weiterzuleben. Sie nahm sich mit Alkohol und Tabletten das Leben und wurde von meinem Klienten tot im Wohnzimmer aufgefunden. Mit dem Tod seiner Mutter hatte sich Peters Sehstärke verändert, seit damals trägt er eine Brille. Peter konnte sich niemandem mitteilen. Sein Vater war nicht bereit, über den Selbstmord seiner Frau zu sprechen, und gemeinsam zu trauern war für Peters Vater bestenfalls ein Zeichen von Schwäche.
In dieser Stunde erzählte mir Peter von seiner Mutter, von ihrer Warmherzigkeit und Sensibilität und wie hilflos er sich gefühlt hatte, ihr in den Auseinandersetzungen nicht beistehen zu können. Es fielen ihm viele Situationen mit seiner Mutter ein, in denen er sich geliebt und verstanden gefühlt hatte, und er zog zum ersten Mal einen Vergleich mit seiner jetzigen Freundin, die er nun als eine herzliche Frau beschreiben konnte. In den folgenden Stunden gelang es Peter, seine Trauer in Sprache zu bringen, und auch wenn er vor mir nicht weinen wollte, hatte sich unsere Beziehung zueinander verändert. Meine Interventionen wurden nicht mehr bekämpft und sein vermeidender Bindungsstil hatte sich in eine humorvolle, etwas spröde Kontaktaufnahme mit mir verwandelt.
Peter hatte ausreichend Vertrauen gefasst, um mir in einer der nächsten Stunden von einem Gespräch mit seiner Freundin zu erzählen. Sie hatte ihm aufgetragen, er solle mit mir die Beziehung zu seinem Vater besprechen. Obwohl die beiden nun schon achtzehn Monate beisammen waren, kannte Eva seinen Vater noch nicht.
Peter nahm von sich aus Bezug auf meine Aufklärung über die Auswirkungen von Bindungstraumatisierung und bat mich, mit ihm einen Plan zu entwerfen, wie er ein Gespräch mit seinem Vater über seine neue Beziehung beginnen könnte. In den folgenden Stunden lernte Peter, seinen inneren kleinen Jungen zu beschützen, übte in Rollenspielen das Gespräch mit seinem Vater und begann mit Hilfe der Methode des dualen Gewahrseins zwischen seinem inneren Erleben und der äußeren Realität zu unterscheiden. Sechs Monate nach Beginn unserer gemeinsamen Arbeit machte Peter seiner Freundin einen Heiratsantrag. Seinem Vater ließ er es frei, ob er zur Hochzeit kommen wolle oder nicht. Meinen Vorschlag, sich eine Traumatherapeutin für eine Traumakonfrontation zu suchen lehnte er mit der Begründung „Sie haben mich eh schon geknackt“ ab. Wir verabschiedeten uns wohlwollend voneinander.
Ich möchte an dieser Stelle zusammenfassend den Vergleich zwischen der Sprache der DichterInnen und lebenden Systemen wagen, welche die Tendenz haben, nach Störungen wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Möglicherweise besteht bei DichterInnen ebenfalls ein Bedürfnis, Umetikettierungen und Worthülsen der Alltagssprache aufzudecken und dem Wort wieder seine Nennkraft, seinen Erfahrungsgehalt zurückzugeben. Man könnte vielleicht auch sagen, dass Dichter und Dichterinnen im besonderen Maße die Hüter(innen) einer „ästhetischen Einheit“ (in Anlehnung an die Bedeutung bei Bateson (1982,1993) in der Sprache sind. Wenn es dem Dichter bzw. der Dichterin gelingt, von der Etikettierung zur Benennung zu gelangen, erhält das Wort seine „Wahrhaftigkeit“ zurück. Ein(e) Poet(in) wird somit nach Heidegger zu einem/r Botengänger/in der Sprache, welcher seine besondere Form in einem Gedicht zum Ausdruck bringt. Der Leser oder Zuhörer erkennt, dass das Gedicht rein Gesprochenes ist, ein vom Dichter aus ihm Herausgesprochenes (vgl. Heidegger, 2001).
Als Philosophin war es für mich naheliegend Heideggers Gedanken über das Wesen der Sprache im Gedicht mit dem Bedürfnis traumatisierter Menschen nach Wahrhaftigkeit zu verbinden. Ein Mangel an menschlicher Präsenz und die Verwendung von Worthülsen werden von verletzten Menschen rasch wahrgenommen und meist auch deutlich abgelehnt. Die Begegnungen mit einem Gedicht und einer Therapeutin, die sich selbst in der und durch die Sprache entwirft, machten es Peter möglich, sich wieder in einen vernehmenden Bezug zum Wesen der Sprache zu setzen. Ein Mensch, der an den Folgen von (Bindungs-)traumatisierungen leidet, kann – angeregt durch den Raum, den die Therapeutin zur Verfügung stellt – das Gedicht lesen oder hören, in der Stille das Gedicht zulassen und im Kairos wieder eine Erfahrung mit der Sprache machen, in der sich ihm „Sein“ in zweifacher Weise „zuspricht“. Wenn er sich erneut in der Sprache zu halten versteht, gewinnt sein Sprechen seine Nennkraft zurück. Es wird in seinem Weltverhältnis voll an Möglichkeiten und er mit ihm. Sein Sprechen öffnet, wovon es letztendlich lebt: Die Sprache ist „das Haus des Seins“, ein Ort, an dem der Mensch seinen Aufenthalt hat.
Was ich Dir wünsche,
Eine Haut, so dünn
Dass sie der Fluss durchströmt
Und sich dein Leben auf die Wellen packt
Doch einen Kern wie eine Kirsche
Unbekümmert spitzer Schnäbel
Eine Liebe, die
nicht umkehrt
Wenn die Brücke bebt.
(Angelica Seithe, 2009, S. 55)
Bateson, G., Bateson, M., C. (1993). Wo Engel zögern, Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen. Frankfurt: Suhrkamp.
Bateson,G. (1982) Geist und Natur, Eine notwendige Einheit. Frankfurt: Suhrkamp
Benn, G. (2000) Statische Gedichte. Frankfurt: Arche.
Celan, P. (2000). Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band Gedichte III Prosa Reden Frankfurt: Suhrkamp.
George, S. (1968). Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Düsseldorf und München: Küpper.
Hakuin, E. (1997). Meister, Authentisches Zen. Frankfurt: Spirit Fischer.
Hasumi, T. (2000). Zen in der Kunst des Dichtens. München: Barth.
Herrigel, E. (2000). Der Zen-Weg. München: Barth.
Hölderlin, F. (2001). Sämtliche Gedichte und Hyperion. Frankfurt: Insel.
Domin, H. (1999). Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik Vorlesungen, Frankfurt: Fischer.
Domin, H. (1997). Wozu Lyrik heute. Frankfurt: Fischer (1997).
Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Frankfurt: Klostermann.
Heidegger, M. (1993). Sein und Zeit. Tübingen: Niemayer.
Heidegger, M. (1992). Was heißt Denken? Stuttgart: Reclam.
Heidegger, M. (2001). Unterwegs zur Sprache. Stuttgart: Neske.
Levine P. & Ann F. (1998). Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers, Unsere Fähigkeit traumatische Erfahrungen zu transformieren, Essen: Synthesis.
Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp.
Muschg, A. (1981). Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare, Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt: Suhrkamp.
Nancy J.-L. (2014). Zum Gehör. Zürich: Diaphane.
Obermayer, K. (2004). Zurück zur reinen Quelle. Berlin: Theseus.
Seithe, A. (2009). Über der strömenden Zeit, Gedichte. Münster: Neues Literaturkontor.
Siegel, D. J. (2012). Mindsight. Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. München: Goldmann.
Schrott, R. & Jacobs A. (2011). Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. München: Hanser.
von Humboldt, W. (2003). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Über die Sprache. Köln: Fourier.
Watzlawick, P., Beavin, J. & Jackson, D. (1996). Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 9., unveränderte Auflage. Bern: Huber.
Whorf, B. L. (1999). Sprache-Denken-Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Hamburg: Rowohlt.
Eingegangen: 1.6. 2018
Peer Review: 15.9. 2018
Angenommen: XX. Monat 20XX
Mag.a Daniela Hofmann arbeitet als systemische Familientherapeutin und Traumatherapeutin in Wien. Sie veröffentlichte zwei Gedichtbände und Gedichte in diversen Anthologien und verwendet diese und fremdverfasste in ihrer Arbeit mit Traumatisierten.
Diesen Artikel zitieren als: Hofmann D. (2019). Das Gedicht als Flaschenpost.
Eine philosophische Betrachtung von Rissen, Brüchen, Sinnfragmenten und Menschen als Botengängern der Sprache und deren Erklärungsversuche bei Traumafolgen. Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, X, Y –ZZ.
© ARGE Bildungsmanagement. Dieser Open Access Artikel unterliegt den Bedingungen der ARGE Bildungsmanagement, welche die Nutzung, Verbreitung und Wiedergabe erlaubt, sofern die ursprüngliche Arbeit richtig zitiert wird.