Die „Wiener Schule der psychoanalytisch orientierten SOZIALTHERAPIE“, gegr.1972

Harald Picker, Vortrag 29.10.2019

 

Die Grundlagen der Psychoanalytischen Sozialtherapie beziehen sich u.a. auf Inhalte der sogenannten „68er Studentenbewegung“. Die Studierenden dieser Zeit sahen in der Psychoanalyse eine intellektuelle Möglichkeit, gesellschaftskritisch zu argumentieren und damit eine Rechtfertigung zur Änderung konservativer gesellschaftlicher Normen.

Vor allem viele PädagogInnen, ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen sahen eine Möglichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit in ihre Arbeitsbereiche einzuführen und Zwänge aller Art sowie Unterdrückung vor allem bei Kindern und Jugendlichen zu vermeiden. Der Begriff der „antiautoritären Erziehung“ wurde für viele PädagogInnen zu einer Art „Leitvorstellung“ der Friedenspädagogik, natürlich bekämpft von Vertretern der konservativen Schulpädagogik, die auch als „schwarze Pädagogik“ bezeichnet wurde. Die Psychoanalyse wurde als der Weg eines neuen Menschenbildes erkannt und Interessierte suchten nach Ausbildungsmöglichkeiten in Psychoanalyse.

Es gab zahlreiche Ausbildungsvereine für Psychotherapie, die LehranalysandInnen aufnahmen, wobei zum kleineren Teil Voraussetzungen wie Medizin- oder Psychologiestudium gefordert wurden, der größere Teil der Ausbildungsvereine aber akzeptierte KandidatInnen mit geisteswissenschaftlicher und philosophischer Vorbildung, so auch Historiker und Soziologen, was für die gesellschaftskritische Richtung der Psychoanalyse sehr wichtig war.

Ich war damals Hauptschullehrer und Student der Pädagogik bei Prof. Heitger, schloss aber dieses Studium nicht ab, sondern suchte nach einem Ausbildungsinstitut für Psychoanalyse. Ich fand Aufnahme im „Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie“. Dieser wurde später umbenannt in „Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse“ (heute WAP), geleitet von Univ. Prof. Dr. Igor Caruso, einem Sozialpsychoanalytiker. Er war der erste Ordinarius für Psychoanalyse in Österreich (Univ. Salzburg). Das war also das Umfeld, in dem ich, gemeinsam mit Klaus Rückert und Max Kompein als Kandidaten des Arbeitskreises, die „Sozialen Probleme“ diskutierte, mit dem Anspruch, die Psychoanalyse damit zu befassen und irgendwann tätig zu werden. Dieses „Irgendwann“ kam sehr unvorbereitet und überraschend auf mich zu: In den Sommerferien wandten sich 2 ehemalige Schüler an mich – spätabends, mit der Bitte um Essen, da sie vom damaligen Justizjugendheim Kaiserebersdorf entwichen waren Sie wollten vom Südbahnhof nach Palermo fahren und dort der Mafia beitreten.

Das Ergebnis dieses Besuches war, dass ich ihnen vorschlug, in meiner Wohnung eine WG für dissoziale Jugendliche zu gründen – und zwar mit Genehmigung des Jugendamtes und des Jugendgerichtshofes, was durch den damaligen Leiter der „Bewährungshilfe“, Sepp Schindler, unterstützt und möglich wurde. Am 16. September 1972 wurde diese WG offiziell gegründet und nannte sich „psychoanalytisch–therapeutisch orientierte WG für dissoziale Jugendliche“. Diese Namensgebung war Ausdruck des Anspruchs auf die Psychoanalyse und diente zugleich der Abgrenzung von studentisch-ideologischen WGs, einem Feindbild für die bürgerlich-konservative Gesellschaft. Nur so konnte das Jugendamt seine Mitwirkung im damaligen „revolutionären und kämpferischen“ Chaos rechtfertigen.

Die studentische Gruppierung „Spartacus“ mit ihrer Parole „Öffnet die Heime!“ versuchte, die Kinder und Lehrlinge in ihre Bewegung einzubinden. Es zeigte sich aber bald, dass die Bedürfnisse der Jugendlichen nicht so sehr der politischen Orientierung der Studenten entsprachen, sondern eher ihren eigenen Vorstellungen von einem freien und unkontrollierten Leben. Das Jugendamt der Stadt Wien wurde heftig kritisiert und vor allem wegen der Vorgänge in der Heimerziehung an den Pranger gestellt. Das hatte zur Folge, dass unsere neue “WG für dissoziale Jugendliche“ als psychoanalytisch/sozialtherapeutisches Projekt ganz im Gegensatz zur studentischen Protestbewegung als seriös gelten konnte und dem Ansehen des „neuen Fortschritts“ im Magistrat Wien diente. Viele Besonderheiten in der Behandlung der Jugendlichen wurden mit Theorien der psychoanalytischen Literatur begründet, was uns Sicherheit und argumentative Kraft in den Auseinandersetzungen mit unseren Kritikern gab. Wir hatten ja bereits mit der psychoanalytischen Ausbildung im Arbeitskreis begonnen und konnten uns meist gegen Zweifler gut rechtfertigen. Es soll nun in verkürzter Weise die Wohngemeinschaft als psychoanalytisch-therapeutisches Experiment dargestellt werden, wobei dies schriftlich nur sehr vereinfacht geschehen kann.

DIE WOHNGEMEINSCHAFT – „Verfassung“

Einige Kernpunkte, die mit den Jugendlichen gemeinsam erarbeitet wurden, sollen kurz erwähnt werden:

  1. Jeder jugendliche Bewohner der WG durfte sich sicher fühlen, niemals von den Erwachsenen aus disziplinären Gründen aus der WG ausgeschlossen zu werden. Es existierte ein verbrieftes „Bleiberecht“.
  2. Es gab keine Verpflichtung einer Arbeit nachzugehen, da die Psychotherapie die Hauptaufgabe in der WG darstellte.
  3. Eine Arbeit zu suchen oder anzunehmen sollte mit der Gruppe besprochen und von ihr befürwortet werden, bevor ein Jugendlicher damit begann. Der Aufenthalt, das gemeinsame Wohnen, sollte Zeit für therapeutische Prozesse ermöglichen, was im Widerspruch zu einer verpflichtenden beruflichen Arbeitszeit stand.
  4. Es gab keine Sanktionen auf Fehlverhalten, aber trotzdem ein striktes Gewaltverbot, das auch ohne Sanktionsandrohung einzuhalten war.
  5. Verdiente ein Jugendlicher Geld, so hatte er davon keinen Beitrag an die WG zu bezahlen, er durfte das Geld nach seinem Ermessen ausgeben.
  6. Für alle Mitbewohner wurde täglich die Grundversorgung an Essen bereitgestellt, zusätzlich durfte jedes Mitglied vom eigenen Geld Essen kaufen und zubereiten.
  7. Es gab zweimal wöchentlich psychoanalytische Gruppenabende mit Theorieunterricht in PSYCHOANALYSE.
  8. Die Jugendlichen wurden von Harald Picker betreut, zusätzlich auch von Freunden aus dem WAP und dem sogenannten Freundeskreis.
    Es war aber klar, dass Harald Picker als Hauptmieter der Wohnung und als Mitbewohner und Leiter des Experiments die Hauptverantwortung trug. Er wurde auch dafür von der MA 11 in den Sozialpädagogischen Dienst übernommen und angestellt.

Das „Sozialtherapeutische Institut der Stadt Wien – MA 11“

Nach Beendigung der WG durch Verselbständigung der Jugendlichen wurde gemeinsam mit dem Jugendamt das „Sozialtherapeutische Institut der Stadt Wien“ gegründet, welches ursprünglich „Jugendtherapeutisches Institut“ heißen sollte, jedoch dann auf Wunsch des damaligen Konsiliar-Jugendpsychiaters der Stadt Wien, Prof. Spiel, den Namen „Sozial-therapeutisches Institut“ erhielt. Nachdem dieser „Konkurrenzkonflikt“ amikal ausgeräumt war, wurde Prof. Spiel ein Befürworter und Freund unserer Zielsetzungen, nannte uns sogar „Nachfolger August Aichhorns“.

Mit der Gründung des Instituts wurden auch Dr. Klaus Rückert und Max Kompein beim Magistrat angestellt. Wir wollten die Arbeit Aichhorns auf unsere Weise auch tatsächlich fortsetzen. Sein Experiment in Oberhollabrunn wurde ja von der Stadt Wien eingestellt.

Das Jugendamt beauftragte uns, die Jugendlichen aus dem „Familienasyl Gänsbachergasse“ zu betreuen, da diese immer gewalttätiger und unkontrollierter ein Submilieu bildeten. Für diese Jugendlichen entwickelten wir ein Konzept des Sozialtrainings, welches schließlich zur Anmietung eines Bauernhofs in Flandorf bei Bisamberg führte. Vor allem Familie Rückert und Max Kompein veranstalteten dort an den Wochenenden Gruppenzusammenkünfte und Aktionen mit den Jugendlichen, die mit uns Betreuern eine Art Familienkontakt erlebten.

Es war unser Ziel, „Die Psychoanalyse“ mit der Sozialtherapie in einen förderlichen und auch theoretischen Zusammenhang zu bringen und nicht ausschließlich verdienstvolle Sozialarbeit zu betreiben. Wir legten großen Wert auf unsere Identität als Psychoanalytiker, obwohl wir als solche noch nicht voll ausgebildet waren. Wir hatten jedoch im WAP laufend Supervision bei Prof. Joseph Shaked, dem Lehranalytiker des Wiener Arbeitskreises, er begleitete unser Projekt auch wissenschaftlich in einer Forschungsarbeit.

Die Ausbildungstätigkeit am „Sozialtherapeutischen Institut“

Es gab schon länger in der Sozialpädagogik–Szene des Wiener Jugendamtes Bedürfnisse nach Fortbildung in der Jugend- und Familienarbeit, nach dem Vorbild der Erneuerung in den sozialpädagogischen Bereichen, so auch in der Heimerziehung. Durch unsere Wohngemeinschaftsarbeit hatten wir eine gewisse Kompetenz für neue therapeutische Konzepte bewiesen und boten diverse Weiterbildungsmodule an und zwar auf psychoanalytischer Basis, auf die wir als theoretische Grundlage eingeschworen waren.

Das Jugendamt förderte uns als Ausbilder, und ohne wirkliche Befugnis erteilten wir offizielle Bestätigungen für diverse Ausbildungsmodule, gründeten Arbeitsgemeinschaften, und schließlich entschlossen wir uns, nach dem Vorbild des „Psychoanalytischen Seminars Zürich“ das „Wiener Psychoanalytische Seminar“ mit dem Schwerpunkt „Sozialtherapie“ zu gründen, durchaus auch mit dem ideologischen Hintergrund, die Psychoanalyse in ihrer elitären Sonderstellung um die sozialen Aspekte der Psychotherapie zu erweitern und sie damit auch den minderprivilegierten Menschen zugänglich zu machen. Dieses Vorhaben kam beim Magistrat Wien sehr gut an, entsprach es doch der damaligen Sozialpolitischen Aufbruchsstimmung der Führung des Jugendamtes.

Die Bildung einer neuen Psychoanalytischen Bewegung

mit starkem sozialkritischen Engagement begeisterte viele KollegInnen, die sich der Psychoanalytischen Bewegung ernsthaft anschlossen und sich auch beruflich als Psychoanalytiker und Psychotherapeuten betätigten, obwohl eine solche berufliche Tätigkeit damals noch – bis 1990 – den MedizinerInnen vorbehalten war und jedem nicht ärztlichen Therapeuten der sogenannte „Pfuscherparagraph“ drohte.

Die Ärzte verhielten sich jedoch erstaunlich tolerant und kooperativ, wirkten in den Ausbildungsvereinigungen als Lehrende und Supervisoren mit, bis das Psychotherapiegesetz eine neue rechtliche Situation schaffte.

Die Psychoanalytiker waren sich zunächst uneinig, ob sie sich unter den Begriff „Psychotherapie“ einordnen oder frei bleiben wollten, da FREUD selbst nicht glücklich damit war, die Psychoanalyse vorwiegend als Psychotherapie gelten zu lassen.

Auch im Wiener Psychoanalytischen Seminar gab es diese Zweifel, und es wurde von Univ.- Prof. Maier ein verwaltungsrechtliches Gutachten erstellt, das der Psychoanalyse eine eigenständige Existenzberechtigung zusprach, sofern rechtliche Grenzen eingehalten wurden.

Letztlich aber ordneten sich alle PsychoanalytikerInnen dem neuen Gesetz unter, was - zum Bedauern vieler Psychoanalytiker - zu einer Gleichstellung aller Psychotherapiemethoden führte. Die Psychoanalyse verlor dadurch immens an Bedeutung in der ÖFFENTLICHKEIT.

Der Versuch, das „Wiener Psychoanalytische Seminar“ als anerkannte Ausbildungsinstitution zertifizieren zu lassen.

Trotz aller erforderlichen wissenschaftlichen Einreichungsdokumente an das Ministerium wurde dem Psychoanalytischen Seminar in einer Sitzung des Psychotherapiebeirats die Anerkennung verweigert. Das Ministerium hatte die Entscheidungsbefugnis an die bereits zugelassenen Therapieschulen delegiert. Kein/e einzige/r der sogenannten KollegInnen sprach sich für eine Anerkennung aus, was offenkundig als das Ergebnis einer durchgehenden Konkurrenzabwehr gedeutet werden konnte und von Harald Picker nur mit „Kein Kommentar“ beantwortet wurde. Auch sogenannte „Freunde“ schlossen sich aus Konkurrenzgründen nicht aus.

Somit war das WPS aus der Konkurrenz der psychoanalytischen Vereine ausgeschieden, und die Mitglieder versuchten, über die Gründung von Gemeinschaftspraxen ihre Identität zu festigen, was aber nur teilweise zur Anerkennung als Psychotherapeut oder Psychoanalytiker führte. Einige suchten die Zusammenarbeit mit therapeutischen Einrichtungen oder arbeiteten in der Privatpraxis. Eine eigene Gemeinschaftspraxis im 3. Bezirk konnte sich nur kurze Zeit erfolgreich halten.

Das war das Ende der Psychoanalytischen Sozialtherapie als neue Ausrichtung der „Psychoanalyse im Gemeinwesen“.

Die „Systemische Psychotherapie“ gewann im Jugendamt immer mehr an Bedeutung, die „Praktikabilität“ der Systemischen Arbeit als ziel- und lösungsorientierte Therapieform war sicher das wesentlichste Argument dafür.

Das Ende des Sozialtherapeutischen Instituts der Stadt Wien

Das „Sozialtherapeutische Institut der MA11“ in der Puchsbaumgasse verlor immer mehr an Bedeutung, Harald Picker wurde zum Direktor des Lehrlingsheims Eggenburg bestellt, Dr. Rückert wurde Direktor des Instituts für Heimerziehung in der Freytaggasse, und Max Kompein übernahm das Sozialtherapeutische Institut, welches schließlich zu einem Verwaltungsbüro umfunktioniert wurde.

Mein persönlicher philosophischer Hintergrund der PSYCHOANALYTISCHEN SOZIALTHERAPIE
(Harald Picker)

Ich kennzeichne diesen Teil des Vortrags mit meinem Namen als Autor, da ich nicht sicher bin, ob alle ehemaligen MitarbeiterInnen der Wiener Psychoanalytischen Sozialtherapie damit inhaltlich übereinstimmen.

Die Psychoanalyse ist für mich eine Disziplin der Philosophie, indem sie das Werden des Menschen vom vorgeburtlichen Zeitpunkt an bis zu seinem Tod als einen Erlebnisweg der Erkenntnisse und der damit verbundenen Reifung darstellt. Sie ist also in erster Linie keine Psychotherapie, obwohl sie in dieser Hinsicht wirksam werden kann. FREUD selbst hat ja ausgedrückt, dass er die Psychoanalyse nicht in erster Linie als Psychotherapie verstanden wissen wollte, obwohl sie eine solche Wirksamkeit durch die „Legierung mit der Suggestion“ ermöglicht.

Die Grundlage der Psychoanalyse ist also die Philosophie als ein Weg der Erkenntnis durch ERLEBEN, DENKEN, ERINNERN, BEZIEHUNG und KÖRPERBEWUSSTSEIN sowie deren Abkömmlinge im Akt der Bewusstwerdung des Reflektierens. Die Möglichkeit dadurch ein Bild der Gesamtwelt des Universums zu gewinnen, ist sicher auch ein Teil der Freude an psychoanalytischer Forschung, verkürzt gesagt: “Freude am grundsätzlich psychoanalytischen Denken“, welches gut vergleichbar ist mit der endlosen Möglichkeit zu musizieren, zu komponieren und neue Musikwerke zu schaffen, auch wenn diese nicht Jedem gefallen müssen. Das kann möglicherweise als Defizit einer persönlichen Entwicklung erkannt werden oder aber als Ergebnis der individuellen Bewusstseins-kultur eines Menschen, dem man in diesem Zusammenhang auch zuspricht, „Liebhaber“ einer bestimmten Musikrichtung zu sein, an der er mit „Leidenschaft“ teilhat.

An diesem Vergleich merken wir bereits, dass eine rein rationale Beurteilung des Wertes einer Kulturleistung ohne psychoanalytische Deutung der Herkunft einer solchen leidenschaftlichen Liebhaberschaft gar nicht möglich ist. Im Gegenteil benötigen wir die Psychoanalyse als Grund-haltung eines „wissenschaftlichen“ Denkens und Forschens bezüglich aller kulturellen Phänomene. Die alte Vorstellung, dass man zur Bedingung einer Wissenschaftlichkeit „Messen und Wägen“ benötige, hat nur beschränkte Berechtigung, da sie für eine Geisteswissenschaft nicht gilt. Die Psychoanalyse sehe ich als Symbiose der Wissenschaften jeder Art.

Wir teilen daher in der Grundtheorie der „Psychoanalytischen Sozialtherapie“ die Annahme FREUDS, dass ohne Neurose eine Kultur nicht entstehen könne, was schließlich zu einer Umwertung der Neurose als Basis für jede Kulturleistung führen muss, wobei die üblichen „moralischen“ und „ethischen“ Grundsätze aus einer solchen Betrachtung nicht ausgeschlossen werden dürfen, da sie letztlich ebenfalls Kulturleistungen sind.

„Kultur“ entsteht im Raum des Bewussten durch Reflexion und wird somit zum „BewustSEIN“. Die Reflexion wiederum ist das Ergebnis auftretender Konflikte in dem Bestreben, diese zu klären, zu beruhigen, in der Funktion des „ICH“ zu organisieren. So werden aus Neurosen Kulturleistungen der Menschheit, von der Erfindung des Feuers bis zur hochtheoretischen abstrakten Mathematik. Die Wirklichkeit wird durch diese Reflexionsdynamik des Menschen zur Wirksamkeit im Universum, welches sich in unserem Bewusstsein abbildet. Dieses Abbild ist einerseits irreal - andererseits von einer Realität, die der Evolution des gesamten Seins unterworfen ist.

Der Physiker Friedrich v. Weizsäcker drückt dies so aus: “Materie ist Geist, der sich als solcher nicht erkennt“. Wir könnten auch - unter Bedachtnahme auf die laufende Evolution vorausschauend sagen: „als solcher noch nicht erkannt hat“.

Wenn wir unter verlässlicher wissenschaftlicher Reflexion diesen Satz so umformulieren, treiben wir Evolution voran. Denn die Annahme, dass der Mensch bereits die Spitze seiner Evolution erreicht hat, dass man seine Realität, so wie sie uns entgegentritt, nicht noch wesentlich in Schritten der Sozialisierung vorantreiben kann, wäre pessimistisch und antirevolutionär. Die psychoanalytische Sozialtherapie ist ihrem Wesen nach auf die Gesamtentwicklung des Menschlichen ausgerichtet, in Richtung eines philosophischen Bewusstseins.

Harald Picker
Psychoanalytiker und Sozialpädagoge; Supervisor in Justiz, Polizei und Psychiatrie; Referent der ARGE Bildungsmanagement und Lehranalytiker der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU).

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