Gerhard Benetka - Ein „später Bürger“. Zur neuen Horkheimer-Biografie von Rolf Wiggershaus.

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2014/01
ISSN 2312–5853

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Gerhard Benetka1

Rezension:
Ein „später Bürger“. Zur neuen Horkheimer-Biografie von Rolf Wiggershaus.*

1Korrespondenz: gerhard.benetkaⒶsfu.ac.at

*Rolf Wiggershaus (2013). Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen „Kritische Theorie“. Frankfurt: Fischer.

Im Einerlei der Kultur, in der wir leben, ist es schwierig geworden, sich von anderen zu differenzieren. Was einst Lebensstil war, Lebensstil einer bestimmten Klasse, der Klasse der feinen Leute, ist, indem das Ideal nach unten in breitere Schichten diffundierte, zur Farce geworden: Auf Urlaubsreise in Italien, vom „musealen Prunkmantel Venedigs“ umfangen, entwickelt in Doderers Roman Ein Mord den jeder begeht Conrad Castiletz’ Frau Marianne, die kürzlich erst für sich das erotische Amüsement des geselligen Geplänkels um Tennisspiel und Bergsteigen entdeckt hat, einen, wie ihr Gatte feststellen muss, „befremdlichen Eifer im Besichtigen von Sehenswürdigkeiten und Kunstschätzen“, der ihm „wie eine Übertragung der sportlichen Disziplin auf Lebensgebiete anmutete, wo diese gar nicht hingehörte“ (Doderer, 1938, S. 211-212). Rasch wird der Reihe nach abgehakt, was jeder gesehen, gehört, probiert, also genossen haben muss. Mit Bildung, Kultiviertheit und Verfeinerung des Geschmacks scheint’s dabei so zu gehen wie mit Tätowierungen: Was der einzelne für Verwirklichung von Individualität und Selbstbestimmtheit hält, macht ihn gerade gleich mit all den anderen, von denen er sich separieren will. Der sportive Ehrgeiz der aufsteigenden Kleinbürger, die an Wochenenden regelmäßig wiederkehrende Jagd nach gutem Wein, französischem Käse und echtem Bauernbrot, engt den Raum geradezu ein für distinkte Erfahrungen. So geht jeder wirkliche Hedonismus zugrunde im allgemeinen Diktat einer geschmackvoll geschmacklosen Einheitskultur. Eigensinnig scheint nur mehr der, der ohne Not billigen Wein trinkt. Aber halt:

Ist es nicht gerade das, was heute als besonders „angesagt“, als „trendig“ gilt – die spaßige Vulgarisierung bürgerlicher Lebensform?

Man tut gut daran, sich zu erinnern, dass der drohende Niedergang echter Genussfähigkeit dereinst einmal tatsächlich ein ernsthaftes philosophisches Problem war – ein Problem, an dem sich letztlich nichts weniger als die Möglichkeit des Gelingens einer künftigen glücklichen Existenz der Menschen erweisen sollte. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war die Zahl der Söhne und Töchter aus gutem bürgerlichen, oft jüdischem Hause groß gewesen, die sich nach einem „neuen Leben“, nach einem „neuen Menschen“ sehnte, und die Erfüllung dieser Sehnsucht – beeindruckt zunächst von der großen Revolution in Russland – von einer zum Greifen nahen „neuen Gesellschaft“ erhoffte (Mittelmeier, 2013, S. 21). Sie alle waren angesteckt von dieser Überzeugung, dass „die Weltrevolution um die Ecke“ (Löwenthal, 1980, S. 55) sei und damit die Verwirklichung einer Gesellschaft, in der, wie Rolf Wiggershaus es an anderer Stelle einmal formuliert hat, „nicht mehr die Wirtschaft über die Kultur, sondern die Kultur über die Wirtschaft herrschte“ (Wiggershaus, 1994, S. 751-752).

Gegen die „Infamie des Bestehenden“ (Georg Lukacs): Noch keine 20 Jahre alt, bereits im August 1914, als die Katastrophe gerade ihren Anfang nahm, hatte der Fabrikantensohn Max Horkheimer, sein zukünftiges Schicksal als Erbe der väterlichen Kunstbaumwollwerke vor Augen, in einem letztlich unveröffentlicht gebliebenen Prosastück die Stimmung dieser seiner eigenen Generation treffend festgehalten:

„Wir sahen die Niedrigkeit, die Unvollkommenheit der Zivilisation, die für die Masse zugeschnitten ist, wir mussten heraus aus den Sorgen unserer Mitmenschen, heraus aus dem Kampf um Geld und Ehre, aus Pflichten und Ängsten, heraus aus Kriegen und Staaten in reinere, lichtere Sphären, in eine Welt der Klarheit und der echten Notwendigkeit“ (Horkheimer, 1914, S. 302).

Aufbruch zur Flucht in eine bessere Welt fernab der unternehmerischen Rationalität des Vaters: Auf der Suche nach einer glücklichen Insel: L’île heureuse, so der Titel, den der junge Horkheimer seiner kleinen Novelle gab.

Gegen den Willen des Vaters: Horkheimer verliebte sich in die Privatsekretärin seines Vaters und ließ die väterliche Fabrik Fabrik sein. Nach dem nachgeholten Abitur begann er Philosophie zu studieren, den endgültigen Bruch mit den Eltern wusste er geschickt zu verhindern.

In dem bei Frankfurt gelegenen Städtchen Kronberg erwarb er mit dem Geld des Vaters eine Villa, die er gemeinsam mit seinem lebenslangen Freund Friedrich Pollock bewohnte. Bald schon zog dort – ohne Wissen der Eltern – die inzwischen entlassene Sekretärin des Vaters ein. Erst nach der im Frühjahr 1925 abgeschlossenen Habilitation in Frankfurt (bei dem Neokantianer Hans Cornelius), im März 1926, ehelichte Horkheimer Rosa Riekher – und überschrieb ihr mit der Hochzeit gleich auch das Eigentum an dem nach wie vor mit Pollock gemeinsam bewohnten Hause. 1930 wurde Horkheimer an der Universität Frankfurt zum Professor für Sozialphilosophie berufen und zum Direktor des 1924 gegründeten Instituts für Sozialforschung ernannt. In seiner Antrittsvorlesung kündigte er Neues an: empirische Studien um „die aktuelle Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil usf.“ (Horkheimer, 1931, S. 32).

Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung des Programms spielte zunächst Erich Fromm, der bereits Ende der zwanziger Jahre eine groß angelegte empirische Erhebung über die soziale Situation und die sozialen, politischen und kulturellen Einstellungen von deutschen Angestellten und Arbeitern in Angriff genommen hatte (Fromm, 1980). Als das große Gemeinschaftswerk des von Horkheimer geleiteten Instituts gilt heute der knapp tausend Druckseiten umfassende Band über Autorität und Familie, der nach der von Horkheimer in politischer Weitsicht gut vorbereiteten Emigration des Instituts in die Schweiz, nach Frankreich und schließlich nach New York in einem Pariser Verlag erscheinen konnte. Zentrales Thema der theoretischen und empirischen Studien war die Frage nach dem psychologischen „Kitt“ der Gesellschaft, durch den die Unterordnung des Einzelnen unter die Totalität des Bestehenden auch dann garantiert ist, wenn ihm die ökonomische Krise Opfer, ja sogar die Vernichtung seiner eigenen wirtschaftlichen Existenz aufzwingt (Institut für Sozialforschung, 1936).

Im Exil in den Vereinigten Staaten konnte Horkheimer sein Institut zunächst an die New Yorker Columbia University angliedern. Anfang der vierziger Jahre siedelte er an die Westküste über, wo er sich mit Theodor W. Adorno zunächst auf die Ausarbeitung der dann 1947 unter dem Titel Dialektik der Aufklärung (Horkheimer & Adorno, 1947) erschienenen philosophischen Studien konzentrierte. Zwischen Los Angeles und New York organisierte Horkheimer in der Folge, von jüdischen Einrichtungen finanziert, groß angelegte empirische Untersuchungen über antisemitische Vorurteile. Als die Ergebnisse in einer von 1949 an auf fünf Bände angelegten Serie unter dem Titel Studies in Prejudice publiziert wurden, begann Horkheimer die Möglichkeiten einer Rückkehr nach Deutschland zu sondieren. 1950 wurde er schließlich nach Frankfurt auf ein Ordinariat für Philosophie und Soziologie berufen und im Jahr darauf dort zum Rektor der Universität gewählt.

Zeit seines Lebens hat Horkheimer – dem eigenen Selbstverständnis nach – an einer materialistischen Theorie der Gesellschaft gearbeitet. „Materialistisch“ meint, den realen Problemen der Menschen zugewandt – und damit auf die materiellen Bedingungen fokussiert, unter denen sich ihr konkretes Leben vollzieht. Die Schaffung erträglicher Lebensverhältnisse für alle ist für ihn die notwendige Voraussetzung für Bildung, Kultur, Genuss, kurz und gut für ein glückliches Leben. Die moderne Gesellschaft empört ihn und zwar nicht nur, weil der Reichtum einiger weniger auf der Beschränkung des Lebensglücks vieler beruht. Dazu kommt, dass das im Laufe des historischen Prozesses zur Macht gelangte Bürgertum nicht nur die kleinen, die von den Unternehmern abhängigen Leute, sondern auch sich selbst, die eigene kultivierte Form des Lebens, der sinnentleerten Rationalität des Wirtschaftsprozesses unterworfen hat. Die Vertreibung des Schönen aus der Welt, ja des Wissens darum, wie man sein Leben genießen kann, betrifft alle, d.h. nicht nur die abhängigen, sondern auch die besitzenden Klassen.

Horkheimers Skepsis gegenüber den Verheißungen einer proletarischen Revolution hat auch darin ihren Grund gefunden. In einem offenen Brief an den Freund erinnert sich Adorno:

„Ein anderes Mal diskutierten wir über Fragen des Sozialismus. Ich, seiner Theorie unkundig, meinte: auch wenn lediglich einmal die anderen, bis jetzt Benachteiligten drankämen, sei der Gerechtigkeit Genüge getan. Dem widersprachst Du: nur wenn das Ganze sich ändere, nicht wenn das Unrecht, das es ausbrütete, in neuer Gestalt sich fortsetze, sei die Änderung überhaupt zu wollen.“ (Adorno, 1965, S. 158).

Horkheimer sympathisierte nicht mit dem Proletariat, er wollte, dass das Proletariat aufhört und proletarische Lebensformen verschwinden (dazu allgemein Löwenthal, 1980, S. 225). Von daher rührte auch sein Bestreben, nicht-proletarische Motive und Quellen radikaler Gesellschaftskritik aufzudecken – und das nicht nur in der Geschichte der bürgerlichen Philosophie, sondern auch in Bezug auf alternative bürgerliche Existenzentwürfe.

Von „späten Bürgern“, „letzten Ausläufern bürgerlicher Tradition“, von „Outsidern des Bürgertums“ und „Individualisten“ ist in einer mit „Bürgerliche Welt“ überschriebenen und unveröffentlicht gebliebenen Aufzeichnung Horkheimers aus dem Jahr 1935 die Rede – von jener Generation ebenso gebildeter wie rebellischer Oppositioneller also, der er selbst sich zugehörig fühlte. Was kann, so fragt sich Horkheimer, die proletarische Revolution denn anderes bringen, als dass die siegreichen Arbeiter den durch die kapitalistische Produktionsweise erzwungenen Kollektivismus ihrer Lebensformen zunächst auf die Gesamtgesellschaft übertragen:

„Je mehr Schwierigkeiten sich der Arbeiterklasse nach dem Sieg entgegenstellen, je größer die Armut ist, umso mehr wird der Arbeitsmensch der Welt die verhassten Bedingungen aufprägen müssen, unter denen das Proletariat im Kapitalismus selbst gelitten hat: Aufhebung der freien und glücklichen Existenz des Individuums, Kampf gegen jeden, der den Maschen des großen Netzes zu entschlüpfen trachtet, Gleichgültigkeit gegen den Einzelnen, Arbeit als oberstes Gesetz“ (Horkheimer, 1935, S. 228-229).

Ein menschliches Antlitz wird eine „neue Gesellschaft“ erst nach und nach entfalten können – und auch nur dann, wenn es in ihr gelingt, die tiefe Menschlichkeit, die in der Art liegt, wie die mit dem Sturz des Bestehenden sympathisierenden „späten Bürger“ als Privilegierte und doch zugleich auch als erbitterte Feinde ihrer eigenen, privilegierten Klasse gelebt haben, – „die Art, wie diese [...] lieben, wie sie sich an Gemälden erfreuen und Musik hören, wie sie über den Tod nachdenken“ (ebd. S. 229) – aufzubewahren:

„Es macht einen Unterschied im Hass gegen diese kapitalistische Welt aus, ob man ihre Früchte vom Genuss oder nur vom Zusehen kennt. Zorn, Hohn und laute Verachtung gegen die Freuden einer raffinierten Zivilisation sind etwas anderes, als die Trauer dessen, der sie genossen hat und die anderen davon ausgeschlossen sieht. Diese letzten Bürger sind genussfähig, ihr Materialismus ist ganz ehrlich, sie schmähen das gute Leben nicht. Sie verstehen etwas vom Feuer guten Weins und vom Reiz einer gepflegten Frau, sie lieben die italienische Landschaft und die Küsten Frankreichs und haben die Sicherheit und den Überblick, den nur eine lange Zugehörigkeit zur Klasse verleiht, auch wenn sie heute schon arm geworden sind. Die Herrn des großen Kapitals entwerten die Lust, weil sie Barbaren sind, Sklaven ihres Geschäfts und ihrer Ideologie, die Armen verachten die Lust, um sich besser mit ihrer Ohnmacht abzufinden. Aber diese späten Bürger sind darum revolutionär, weil sie wissen, was Glück heißt und dass ohne günstige Bedingungen die menschlichen Anlagen ersticken und entarten“ (ebd. S. 231).

Rolf Wiggershaus, seit vielen Jahren der kundige Historiograf der Kritischen Theorie und Frankfurter Schule, hat eine gut lesbare Biografie des späten Bürgers Max Horkheimer geschrieben. Die Lektüre macht ein wenig traurig, weil sie von vergangenen Zeiten erzählt, in denen die Suche nach dem Glück im Leben des Einzelnen noch ganz selbstverständlich mit Vorstellungen vom Glück möglichst vieler verbunden – und überhaupt das glückliche Leben noch ein Problem der Philosophie war.

Literatur

Adorno, T. W. (1965). Offener Brief an Max Horkheimer. In T. W. Adorno (2003), Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I (S. 155-163). Frankfurt: Suhrkamp.

Doderer, H. (1938). Ein Mord den jeder begeht. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1964.

Fromm, E. (1980). Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozial-psychologische Untersuchung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Horkheimer, M. (1914). L’île heureuse. In ders. (1987), Gesammelte Schriften. Band 11: Nachgelassene Schriften 1914-1931 (S. 289-328). Frankfurt: Fischer.

Horkheimer, M. (1931). Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung. In ders. (1988), Gesammelte Schriften. Band 3: Schriften 1931-1936 (S. 20-35). Frankfurt: Fischer.

Horkheimer, M. (1935). Bürgerliche Welt. In ders. (1985), Gesammelte Schriften. Band 12: Nachgelassene Schriften 1931-1949 (S. 227-232). Frankfurt: Fischer.

Horkheimer, M. & Adorno, T. W., (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In T. W. Adorno (2003), Gesammelte Schriften. Band 3. Frankfurt: Suhrkamp.

Institut für Sozialforschung (1936). Studien über Autorität und Familie. Paris: Librairie Félix Alcan

Löwenthal, L. (1980). Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel. Frankfurt: Suhrkamp.

Mittelmeier, M. (2013). Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt. München: Siedler.

Wiggershaus, R. (1994). Friedrich Pollock – der letzte Unbekannte der Frankfurter Schule. Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 8, 750-756.

 

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Benetka, G. (2014). Rezension: Ein „später Bürger“ Zur neuen Horkheimer-Biografie von Rolf Wiggershaus. ARGE Forschungsjournal, 2014/01.

 

Autor

Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Benetka; Leiter des Departments für Psychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Wissenschaftlicher Leiter des Universitätsinstituts ARGE Bildungsmanagement.
Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsforschung, wissenschaftstheoretische (insbesondere philosophische) Grundlagen der Psychologie; Rolle der Visualisierung in der Wissenschaft
E-Mail: gerhard.benetkaⒶsfu.ac.at

 

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