Peter H. Karall - Teilnehmende Beobachtung – ein ethnologisches Forschungsparadigma als Impuls für die systemische Beratung.

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2014/01
ISSN 2312–5853

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Peter H. Karall1

Teilnehmende Beobachtung – ein ethnologisches Forschungsparadigma als Impuls für die systemische Beratung.

Zusammenfassung

Teilnehmende Beobachtung ist – in Verbindung mit Feldforschung – eine zentrale Methode der Kultur- und Sozialanthropologie. Sie stellt sowohl ein Kontinuum seit den Anfängen des Faches dar als auch ein „Mysterium“, denn trotz ihrer Allgegenwart im ethnologischen Forschungsprozess findet sich in Einführungswerken und Lehrbüchern wenig konkret Lehr- und Lernbares zu eben diesem Thema. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, welche Aspekte der Teilnehmenden Beobachtung sie zu einer Methode machen, die einerseits als „urtümlich“ bezeichnet wird und die sich andererseits von allen anderen sozialwissenschaftlichen Methoden deutlich unterscheidet. Auf einer zweiten Ebene wird beleuchtet, welche Anknüpfungspunkte die Teilnehmende Beobachtung zur systemischen Beratung in sich birgt und welche Impulse von ihr für die systemische Beratungspraxis ausgehen können.

Abstract

Participant observation, in combination with fieldwork, is a main method of social and cultural anthropology. Indeed, it has been central since the beginnings of the subject, and yet, at the same time, it is an almost enigmatic phenomenon. In spite of its omnipresence in anthropological research, little information can be found on participant observation in introductory books on social and cultural anthropology. This article focuses on the questions of which aspects of participant observation are responsible for the fact that it is regarded as a method that is "urtümlich" (authentic) on the one hand and, on the other hand, why and how it is clearly different from all other methods pertaining to social science. In addition, the article seeks to illuminate potential tie-ins of participant observation with the practice of systemic counseling.

Keywords Teilnehmende Beobachtung, sozialwissenschaftliche Methode, Kultur- und Sozialanthropologie, Beobachtung alltäglicher Abläufe, systemische Beratung

1Korrespondenz: peter.karallⒶunivie.ac.at

Kultur- und Sozialanthropologie ist eine wissenschaftliche Fachrichtung, die in Wien vor kurzem noch Ethnologie und bis in die frühen 1990er Jahre Völkerkunde hieß. Der Wechsel der Etikettierungen hat seinen Grund nicht zuletzt im Wandel des wissenschaftlichen Faches selbst. Dieser zeigt sich in der Theoriebildung genauso wie in der Methodik und an den Untersuchungsfeldern. Die Kultur- und Sozialanthropologie ist heute eine moderne Sozialwissenschaft, in der sämtliche sozialwissenschaftlichen Methoden eingesetzt werden. Auch wenn die empirischen Forschungen nach wie vor häufig qualitativ ausgerichtet sind, finden sich quantitative Erhebungen ebenso wie Untersuchungen, die auf Methoden aus beiden Bereichen basieren. Die meisten Erhebungsverfahren wurden im Laufe der Zeit verfeinert, verbessert und haben sich verändert – bis auf eine große Ausnahme: die Teilnehmende Beobachtung, die Gerd Spittler nicht ganz zu Unrecht als „urtümliche Methode“ bezeichnet (vgl. Spittler, 2001, S. 3).

In Handbüchern und Lehrwerken der Ethnologie bzw. der Kultur- und Sozialanthropologie wird betont, dass die Teilnehmende Beobachtung eine herausragende Stellung unter den Methoden des Faches einnimmt und sogar ein wesentliches Merkmal dieser wissenschaftlichen Richtung darstellt. Eher irritierend wirkt hingegen, dass man in denselben Büchern außer einigen Tipps und allgemeinen Hinweisen kaum etwas konkret Lehr- und Lernbares dazu findet.

Wie ist das möglich, gilt die Teilnehmende Beobachtung doch schon seit der Forschung von Bronislaw Malinowski auf den Trobriand Inseln in den Jahren 1915 bis 1918 als die zentrale Methode der Ethnologie? Ihre Wurzeln reichen sogar bis in die 1870er Jahre zurück, wo sie von Frank Hamilton Cushing beschrieben wurde (vgl. Hauser-Schäublin, 2003, S. 35).

Wissenschaft - Beratung - Ethnologie

Um Teilnehmende Beobachtung und ihren Wert zu verstehen, ist es nötig, ein Grundverständnis davon zu bekommen, was der Ethnologe/die Ethnologin von seinem/ihrem Selbstverständnis her ist und was ihn/sie von anderen WissenschaftlerInnen unterscheidet. In diesem Zusammenhang sind auch ein paar Worte zum Verhältnis von Ethnologie als Kultur- und Sozialwissenschaft und systemischer Beratung angebracht.

Obwohl beinahe alle Beratungsansätze aus wissenschaftlichen Ergebnissen und Theorien hervorgegangen sind, ist das gelebte Verhältnis von Wissenschaft und Beratung nicht immer ein einfaches und spannungsfreies. Das hat vielfältige Ursachen, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden kann. Ein Unterschied, auf den aber immer wieder gerne hingewiesen wird, ist die sogenannte Zweckfreiheit der Wissenschaften im Gegensatz zur Anwendungsorientierung der Beratung. Damit ist gemeint, dass es ForscherInnen nicht darum geht, glatte, eins zu eins anwendbare Konzepte für die Praxis zu entwickeln, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen, um die Welt besser zu verstehen.

Die gelebte Praxis der Menschen steht aber ebenso wie in der Beratung im Mittelpunkt des ethnologischen Interesses. Im Gegensatz zu BeraterInnen, in deren Fokus kurz- und mittelfristige Lösungen für Probleme von Individuen und Organisationen stehen, versuchen WissenschaftlerInnen, die Praxis und deren Wandel in ihrer Komplexität zu verstehen und zu erfassen. Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen. Entsprechend ist der Zeitbedarf des/r Ethnologen/in meist bedeutend höher als der des/r Beraters/Beraterin.
Bei genauerer Betrachtung muss aber auch bei wissenschaftlichen Projekten unterschieden werden, ob es sich um klassische akademische Forschung oder um Auftragsforschung handelt. WissenschaftlerInnen und wissenschaftliche Verfahren bringen nicht selten auch in ein nicht-wissenschaftliches Projekt eine andere Qualität. Das gilt für die Evaluation organisatorischer Maßnahmen ebenso wie für die Analyse von betrieblichen Arbeitsabläufen oder von Organisationskulturen.

Gerade EthnologInnen versuchen aber auch in diesem Fall nicht primär, Komplexität zu reduzieren, sondern das Leben in seiner Komplexität zu analysieren und zu verstehen. Vieles von dieser Komplexität des Lebens und besonders kultureller Zusammenhänge fällt in der „normalen“ Beratungspraxis notwendigerweise oder auch unbeabsichtigt weg. Komplexitätsreduktion ist hier genauso wichtig wie im betrieblichen Alltag. Und dennoch ist es höchst überlegenswert, ob nicht gerade ein erweiterter Zugang der Beratungspraxis neue Impulse geben könnte. Dies könnte in dem Sinne geschehen, als dadurch Komplexität offen gehalten wird bzw. bei den Betroffenen und AuftraggeberInnen das Bewusstsein für Komplexität überhaupt erst geweckt wird. Meine eigenen Erfahrungen im Wirtschaftsbereich sind, dass in Organisationen und ganz besonders auf der Führungsebene oft regelrechte Angst vor Komplexität herrscht. Alles was nicht in eine Powerpoint-Präsentation, in ein Balken- oder Tortendiagramm passt, ist zu viel.

Doch was hat eigentlich ein/e EthnologIn mit Organisationen und Beratung zu tun? Die simple Antwort: Einiges! Nicht von ungefähr tauchen Urahnen der Ethnologie auch in der Entwicklungsgeschichte und den Theorien der systemischen Beratung auf. Zu erwähnen sind Gregory Bateson und Margret Mead, aber auch einer der Impulsgeber für die moderne Systemtheorie, nämlich Talcott Parsons. Psychologen und Psychiater wie Paul Watzlawick und Kurt Lewin pflegten ebenfalls enge Kontakte zu EthnologInnen und AnthropologInnen.

Spätestens seit den 1980er Jahren ist es für EthnologInnen keineswegs ungewöhnlich, auch in der eigenen Gesellschaft und gerade auch in Organisationen und Wirtschaftsunternehmen zu forschen. Selbst als die Ethnologie noch vornehmlich Regionen außerhalb Europas im Blick hatte, gab es immer wieder Überschneidungsflächen. Auch die Akteure in den Untersuchungsfeldern sind sich keineswegs so unähnlich, wie dies scheinen mag. Schon Anfang der 1970er Jahre erschien ein recht amüsantes und provokantes Buch mit dem Titel „Managen wie die Wilden“ (Page, 1972). Bei allen Schwächen dieses Buchs und seiner scharf zu kritisierenden Diktion, welche noch dem Geist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstammt, zeigt es doch eines recht gut: Wirtschaftsunternehmen und indigene Dorfgemeinschaften haben mehr gemeinsam, als man meinen könnte. Das Agieren von ManagerInnen erschließt sich der Rationalität der Forscher in vielen Fällen keineswegs leichter als jenes vermeintlich „primitiver“ DorfbewohnerInnen.

In den USA ist es keine Seltenheit, dass EthnologInnen auch als BeraterInnen in Organisationen und Wirtschaftsunternehmen arbeiten. Wie viele EthnologInnen in Österreich im Beratungsumfeld tätig sind, ist allerdings schwer zu sagen.

Der ethnologische Blick

Allen ethnologischen Forschungen (egal ob in einem Dorf, in einer Institution außerhalb Europas oder in einer Organisation im eigenen Land) ist eines gemeinsam: die Feldforschung und der damit verbundene sogenannte „ethnologische Blick“ oder die „ethnologische Perspektive“. Die Anwendung des „ethnologischen Blicks“ verbindet auch Forschungen in Betrieben und Organisationen mit traditionellen Forschungsfeldern der Ethnologie. Mit dem „ethnologischen Blick“ wiederum eng verbunden ist die sogenannte „Befremdung der eigenen Kultur“. (vgl. Amann & Hirschauer, 1997) Aus dieser Haltung heraus bzw. mit dieser Zugangsweise wird auch Alltägliches im eigenen kulturellen Umfeld nicht mehr einfach als Selbstverständliches betrachtet. Der Ethnologe/die Ethnologin lässt sich gewissermaßen als Fremde/r auf die ihr/ihm möglicherweise vertrauten Dinge ein und versucht, sie aus dieser Perspektivenverschiebung heraus zu erleben, zu sehen und zu verstehen.

Der Ethnologe/die Ethnologin sieht aus dieser Perspektive weniger und gleichzeitig mehr als z.B. der „eingeborene“ Personalleiter oder andere Angehörige einer Firma.

Wir haben es hier mit einem Paradoxon zu tun. Natürlich wissen Angehörige einer bestimmten Organisation oder Gesellschaft mehr als der oder die ForscherIn über ihre Tätigkeit und die Organisation. Aber sie wissen gleichzeitig auch weniger, weil gerade der Aspekt der Kultur ein für die Betroffenen meist unsichtbarer ist.

Der ethnologische Blick, der auch scheinbar Vertrautes als fremd betrachtet, ist die Basis für die Methode der Teilnehmenden Beobachtung. Hauser-Schäublin schreibt dazu:

„Wir produzieren unseren Alltag in Interaktion mit unserer sozialen und physischen Umwelt, ohne viel darüber nachzudenken, wie wir was tun, und wir stellen uns in der Regel kaum Fragen dazu: Alles ist selbstverständlich, eingespielt, alltäglich eben. Teilnahme als wissenschaftliche Methode aber setzt bewusste Aufmerksamkeit all den Dingen gegenüber voraus, die den ‚normalen‘ Teilnehmern gar nicht auffallen, weil sie mitten drin sind“ (Hauser-Schäublin, 2003, S. 37).

Dafür ist es aber auch notwendig, von den betroffenen Menschen, egal ob DorfbewohnerInnen oder Firmenangehörige, nicht als Fremdkörper wahrgenommen zu werden, sondern soweit als möglich dazuzugehören. Und hier sind wir bereits beim zweiten Paradoxon, mit dem die Ethnologie und damit auch die Teilnehmende Beobachtung leben muss, nämlich Nähe und Distanz gleichzeitig zu leben.

Teilnehmende Beobachtung als Forschungsmethode bedeutet Nähe zu den Menschen, die natürlichen Situationen weitestgehend entspricht. Andererseits bedeuten Beobachtung und das Anfertigen von Notizen und Aufzeichnungen auch Distanzierung.

Feldforschung und Teilnehmende Beobachtung

Feldforschung und Teilnehmende Beobachtung sind aufs Engste mit der Ethnologie verbunden und gelten als deren besondere empirische Stärken. Selbst innerhalb des Faches werden die Bezeichnungen Teilnehmende Beobachtung und Feldforschung manchmal leider synonym verwendet. Das ist allerdings falsch. Feldforschung ist eine empirische Vorgehensweise, die sich aus verschiedenen Methoden zusammensetzt. Im Grunde genommen bedeutet Feldforschung nichts anderes, als in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen zu forschen (vgl. Beer, 2003, S. 11).

Teilnehmende Beobachtung hat darin zwar eine herausragende Stellung, ist aber nur eine Methode unter anderen. In der modernen Ethnologie werden, wie bereits erwähnt, sämtliche Erhebungsverfahren verwendet wie z.B. Interviews, Fragebögen, Inhaltsanalysen usw. Teilnehmende Beobachtung wird im Rahmen der Feldforschung also durch andere Verfahren gestützt und evaluiert.

Teilnehmender Beobachtung und ethnologischer Feldforschung ist aber gemeinsam, dass für beide ein längerer Aufenthalt in einer Gruppe vorausgesetzt wird, um möglichst viel über einen oder mehrere Aspekte des Lebens der Menschen zu erfahren (vgl. Hauser-Schäublin, 2003, S. 33).

Wissenschaftliche Daten werden im Rahmen der Feldforschung in der Lebenswelt der betroffenen Menschen gesammelt. Feldforschung ist damit Laborstudien, aber auch z.B. Gruppendynamikseminaren, wie sie im systemischen Umfeld durchgeführt werden, diametral entgegengesetzt.

Feldforschung ist zielgerichtet, sie verfolgt aber ein holistisches, also ganzheitliches Ideal. Fragestellungen sind daher immer in einen weiteren kulturellen Kontext eingebettet. Besonders für die Organisationsforschung ist wichtig, dass davon ausgegangen wird, dass „Gruppenpraxen ständig über die Gruppe hinaus- und andere Gruppenpraxen in sie hineinwirken“ (Warneken & Wittel, 1997, S. 6).

Ein wichtiger Unterschied zur systemischen Beratung ist, dass Kultur nicht als Instrument betrachtet wird, welches zur Veränderung von Organisationen eingesetzt werden kann, sondern als ein in seiner Dynamik höchst komplexes Gebilde, welches sich kaum instrumentalisieren oder gezielt abändern lässt. Im Gegensatz zu den meisten Beratungsansätzen sind in der ethnologischen Organisationsforschung auch Aspekte und Facetten des Organisationslebens, welche nicht direkt das Arbeitsgeschehen betreffen, von Interesse. Das liegt einerseits am erwähnten holistischen Ideal, trägt aber auch der Auffassung Rechnung, dass Kultur- und Gruppenpraxen nichts Abgeschlossenes sind.

Im Gegensatz zu vielen außereuropäischen Feldern gibt es in westlichen Gesellschaften eine strikte Trennung von Arbeit und Freizeit bzw. zwischen Privatleben und Arbeitsleben. Trotzdem versucht die Ethnologie, im Rahmen der Organisationsforschung auch Bereiche und Situationen in die Betrachtung einzubeziehen, die über die eigentliche Arbeitstätigkeit hinausgehen. Dazu gehören Kaffeepausen bzw. Rauchpausen und das Mittagessen genauso wie Betriebsfeiern.

Gerade hier, in Situationen, die dem/der ForscherIn im Gegensatz zu berufsbezogenen Handlungen innerhalb einer Organisation möglicherweise besonders vertraut erscheinen, sind der „ethnologische Blick“ und die Beobachtung von besonderer Bedeutung. Beobachtung ist etwas, das wir auch im Alltag ständig tun. Wir könnten die meisten ganz selbstverständlichen Situationen gar nicht meistern, ohne zu beobachten.

Wissenschaftliche Beobachtung unterscheidet sich von dieser alltäglichen Form vor allem dadurch, dass sie systematisch ist und dadurch Daten hervorbringt, die für wissenschaftliche Erkenntniszwecke nutzbar sind. Solche Daten zeichnen sich meistens dadurch aus, dass sie vergleichbar und standardisiert sind.

Hierbei zeigt sich wiederum ein Paradoxon der Teilnehmenden Beobachtung. Als wissenschaftliche Methode steht sie primär der systematischen Beobachtung nahe, und dennoch ist sie auch unsystematisch. Teilnehmende Beobachtung steht gewissermaßen zwischen den Polen der alltäglichen und wissenschaftlichen Beobachtung.

Der Aspekt der Teilnahme in der Teilnehmenden Beobachtung

Am schwierigsten zu beantworten ist die Frage, was mit „Teilnahme“ gemeint ist. Teilnahme ist ein unscharfer Begriff. Brigitta Hauser-Schäublin veranschaulicht das an folgendem Beispiel: Es macht einen alltagssprachlichen Verstehensunterschied, ob jemand sagt, er hätte an einem Weltcup-Fußballspiel teilgenommen oder am letzten New-York-Marathon. In ersterem Fall würde man automatisch annehmen, dass er als Zuseher dabei war. Im zweiten Fall jedoch, dass er dort mitgelaufen ist (vgl. Hauser-Schäublin, 2003, S. 33). D.h. im ersten Fall würde es sich um eine passive Teilnahme, im zweiten um eine aktive Teilnahme handeln. Gemeinsam wäre jedoch beiden Bedeutungsvarianten, dass im Zentrum das „Mit-Dabei-Sein“ stünde. Verschieden wäre allerdings die Rolle des Handelnden (vgl. Hauser-Schäublin, 2003, S. 34).

Im Rahmen einer Feldforschung könne nach Hauser-Schäublin Teilnahme ein ganzes Spektrum unterschiedlichsten Engagiertseins bedeuten (vgl. ebenda).

Wie bereits erwähnt, stellt Teilnehmende Beobachtung methodisch das Gegenteil von Laboruntersuchungen dar. Sie baut auf sozialen Beziehungen zwischen den Forschenden und den Beforschten auf, was auch einen fundamentalen erkenntnistheoretischen Unterschied bedeutet. Während sich Laboruntersuchungen unabhängig von der Person des Forschers wiederholen lassen (wobei selbst das von einigen WissenschaftstheoretikerInnen angezweifelt wird, siehe z.B. Haraway, 1997), sind die Informationen bzw. Daten, die mittels der Teilnehmenden Beobachtung gewonnen werden, „immer von den Interaktionen des Forschers mit seinem Untersuchungsfeld geprägt“ (vgl. Hauser-Schäublin, 2003, S. 34).

Dabei ist Teilnehmende Beobachtung nicht nur eine wissenschaftliche Methode, sie dient zu Beginn einer Feldforschung auch dazu, sich den Menschen und deren Verhalten im Untersuchungsfeld so gut wie möglich anzupassen. Es geht um den Versuch, nicht mehr als Fremdkörper wahrgenommen zu werden und Zusammenhänge zu verstehen. Notizen und Aufzeichnungen in dieser ersten Phase sind oft banal oder sogar unbrauchbar, weil meist nur offensichtliches aufgezeichnet wird bzw. man zu Beginn gar nicht weiß, was relevant ist. Teilnehmende Beobachtung dient in dieser ersten Phase auch dazu, eine bereits vorhandene Forschungsfrage in der Praxis zu evaluieren (vgl. Hauser-Schäublin, 2003, S. 45).

Gezielt als Erhebungsmethode wird Teilnehmende Beobachtung meist erst in einer zweiten Phase eingesetzt. Sie wird hier im Ensemble mit Gesprächen, Interviews usw. verwendet. Einige zentrale Leitfragen im Rahmen der Organisationsforschung könnten in dieser Phase sein: Wie läuft routinierte Praxis ab? Gibt es Handlungsspielräume? Wie verlaufen formelle und informelle Kommunikationskanäle? Welche Bedeutung hat das Leitbild im täglichen Leben der MitarbeiterInnen?

Der Aspekt der Beobachtung in der Teilnehmenden Beobachtung

Weshalb Beobachtung? Eine generelle Grundannahme lautet: Was Menschen in Interviews oder auch Workshopsituationen sagen, deckt sich häufig nicht mit der gelebten Praxis!

Teilnehmende Beobachtung ist zwar, wie zuvor bereits erwähnt, oft unsystematisch, was als nicht zu leugnende methodische Schwäche bewertet werden muss. Dies wird aber zu einer Stärke, wo systematische Forschung an ihre Grenzen stößt. Wissenschaftliche Befragungen, und hier besonders Fragebogenuntersuchungen und standardisierte Interviews, schaffen künstliche Situationen. Auch qualitative Interviews können dieses Manko nicht gänzlich beseitigen. Probleme solcher „artifiziellen Interviewsituationen“ lassen sich nach Gerd Spittler nur durch „natürliche Gesprächssituationen“ vermeiden, deren Voraussetzung Teilnehmende Beobachtung ist (vgl. Spittler, 2001, S. 8).

Eine weitere Herausforderung, der sich ForscherInnen stellen müssen, ist, dass manche Gegenstandsbereiche weder durch Interviews noch durch Gespräche wirklich erfassbar sind. Das gilt besonders für Themen, die der Geheimhaltung unterliegen und solche, die sprachlich auch für die AkteurInnen nur sehr schwer darstellbar sind. Zu Letzteren gehören auch weite Teile des beruflichen Wissens sowie der Bereich, der in der Literatur oft fälschlicherweise als Tacit Knowledge bezeichnet wird (siehe z.B. Brixa, 2012, S. 51ff.).

Ebenso wenig direkt greifbar sind Gegenstandsbereiche bzw. Widersprüche in der Vorstellungswelt der AkteurInnen, die diesen im Alltagshandeln nicht bewusst sind. Wie bereits weiter oben erwähnt, dient Beobachtung auch dazu, Diskrepanzen zwischen Aussagen und Verhalten sichtbar zu machen. Das tatsächliche Verhalten der AkteurInnen weicht beinahe immer von den getätigten Aussagen darüber ab. Oft werden in Befragungen Wünsche oder Normen so dargestellt, als handle es sich dabei um alltagspraktische Realität. Gerd Spittler betont, dass es schlicht naiv ist zu glauben, dass Aussagen von Informanten über deren tatsächliches Handeln und Denken Aufschluss geben (vgl. Spittler, 2001, S. 21). Zudem geben Interviewte aus unterschiedlichen Gründen häufig Antworten auf Fragen, die sie im Grunde gar nicht beantworten können, weil entweder ihr Wissensstand nicht ausreicht oder die Frage nicht beantwortbar ist, weil es sich beispielsweise um hochspekulative Prognostik handelt.

Besonders wichtig erscheint hier auch die Anmerkung, dass gerade im Rahmen der Organisationsforschung nicht darauf vergessen werden darf, dass jede Berufsrolle nur über einen sehr spezifischen eingeschränkten Erfahrungs- und Wissenshorizont verfügt. Das gilt für die Geschäftsleitung genauso wie für SachbearbeiterInnen oder das Reinigungspersonal.

Das generelle Problem der Teilnahme

José Mulder van de Graaf und Richard Rottenburg weisen darauf hin, dass die Vorstellung vom Ethnographen, der zwei oder mehr Jahre wie ein Einheimischer leben und dabei forschen darf, auch in den klassischen Forschungsgebieten der Ethnologie außerhalb Europas nur in den seltensten Fällen der Realität entspricht. Noch weniger träfe dieses Ideal auf Feldforschungen in Wirtschaftsunternehmen zu, wo der/die ForscherIn schon aufgrund von Sicherheitsvorschriften und Kompetenzmangel nicht wirklich aktiv mitarbeiten darf und Zeit für den Betrieb eine wertvolle Ressource darstellt. Selbst bei Meetings darf der/die ForscherIn aufgrund der Vertraulichkeit der dort behandelten Themen häufig nicht anwesend sein, und die Möglichkeit, sich ungehindert in den Firmenräumen und auf dem Betriebsgelände zu bewegen, ist ebenfalls häufig eingeschränkt (vgl. Van de Graaf & Rottenburg, 1989, S. 30f.).

Die Autoren meinen, dass entsprechend Teilnehmende Beobachtung meistens eher „dabeistehende“ Beobachtung bedeutet (vgl. Van de Graaf & Rottenburg, 1989, S. 31). Fehlende praktische Kompetenzen und Kenntnisse zu Beginn des Feldaufenthaltes sind jedoch nicht nur bei Forschungen in Wirtschaftsbetrieben und anderen Organisationen ein Thema. Sie spielen auch in klassischen ethnographischen Feldforschungen eine Rolle.

Tätigkeiten, die für viele Menschen völlig simpel und selbstverständlich sind, stellen die/den ForscherIn am Anfang ihres/seines Aufenthaltes vor beträchtliche Probleme. Nur die wenigsten ForscherInnen sind vor ihrem Feldaufenthalt in der Lage, ein Bambusdach zu reparieren, Wollstoffe zu weben oder einfach eine Ziege zu melken.

Darum gibt es einen zentralen Aspekt, der für alle ethnologischen Feldforschungen gilt: Forschen bedeutet Lernen!

Das bedeutet, einerseits Arbeitsabläufe und Tätigkeiten und andererseits Sprachen zu lernen. Beides gilt auch für die ethnologische Organisationsforschung.

In vielen Regionen der Welt ist Mehrsprachigkeit selbstverständlich, was bedeutet, dass es häufig eine Lingua Franca gibt, die aber nicht die tatsächliche Sprache der dort lebenden Bevölkerung ist. Um tatsächlich Zugang zu den AkteurInnen zu bekommen, ist aber die Beherrschung der Sprache und des spezifischen Vokabulars der jeweiligen Region oder Gruppe erforderlich.

Nicht viel anders ist das in Unternehmen. Auch hier gibt es eine Lingua Franca (Wirtschaftssprache, Managementsprache, ...), aber auch eine indigene Sprache (Unternehmenssprache). Auch die jeweiligen Fachjargons (IT, Marketing etc.), die sich mit unternehmensspezifischen Sprachen überschneiden, machen die Sache nicht gerade weniger komplex. Organisationen oder sogar Organisationseinheiten verfügen über ein eigenes Vokabular, welches auch für BeraterInnen und Anbieter anderer Dienstleistungen eine nicht zu unterschätzende Hürde darstellen kann.

Teilnehmende Beobachtung, die Person und der Status des Forschers/der Forscherin

Keine andere Forschungsmethode ist so eng mit der Person, Persönlichkeit und Rolle des Forschers verbunden wie die Teilnehmende Beobachtung. Mit Rolle ist hier vor allem auch jene gemeint, die dem/der ForscherIn von den AkteurInnen innerhalb des Untersuchungsfeldes zugeschrieben wird. Diese ist oft strukturbedingt mit der Funktion verbunden, die er/sie im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung offiziell in der Organisation bekleidet und steht in einem engen Zusammenhang mit Status. Nicht selten ist bei wissenschaftlichen ethnographischen Organisationsforschungen die einzige Funktion, die ForscherInnen angeboten wird, die einer Hilfskraft. Das ergibt sich häufig aus den bereits vorher erwähnten Problemen rund um die fachliche Kompetenz (vgl. Götz, 1997).

Allerdings ist es in der Rolle einer Hilfskraft nur schwer vorstellbar, an Geschäftsleitungs-Meetings teilzunehmen oder in höheren Hierarchieebenen Gespräche auf Augenhöhe zu führen. Auch soziale Merkmale (Alter, Geschlecht etc.) können einen starken Einfluss auf Akzeptanz und Zugang zum Feld haben, was in besonderem Maße auch für Forschungsthemen außerhalb Europas gilt, wo es z.B. nicht selten eine rigide Trennung männlicher und weiblicher sozialer Sphären gibt.

Wie ich ganz zu Beginn des Beitrages erwähnt habe, gibt es kaum praktische Einführungen in die Teilnehmende Beobachtung. Die Frage, woran das liegt, lässt sich dahin gehend beantworten, dass es sich hierbei um eine Methode handelt, die man tatsächlich nur bedingt erlernen kann. Es gibt Forscherpersönlichkeiten, für die diese Methode faktisch maßgeschneidert ist. Das bedeutet wiederum aber nicht, dass jede/r ForscherIn in jedem Feld reüssieren könnte. Die meisten EthnologInnen bzw. Kultur- und SozialanthropologInnen sind ExpertInnen für eine Region, eine Gruppe oder ein Thema. Um die im jeweiligen Feld vorherrschenden Verhaltensregeln, Normen und Alltagspraktiken zu verstehen und bestmöglich selbst zu beherrschen, haben einige der ForscherInnen während ihrer Feldaufenthalte eine „zweite Sozialisation“ erfahren.

Bis zu einem gewissen Grad kann dies auch für erfahrene BeraterInnen gelten, was sich auch in deren Status niederschlägt. Auch Beratung ist eng mit der Person und Persönlichkeit des Beraters verbunden. Seine oder ihre Rolle ist jedoch im Normalfall schon mit Beginn des Auftrags für die meisten Akteure klar definiert, selbst wenn der eigentliche Zweck seiner/ihrer Präsenz für manche Organisationsmitglieder unklar ist.

Rahmen und Zeit

Ein bedeutender Unterschied, den es zwischen Teilnehmender Beobachtung und anderen Methoden gibt, betrifft die Begrenzung von Zeit und Raum. Bei einem Interview beispielsweise handelt es sich für alle Beteiligten um eine klar umgrenzte Situation, die explizit aus dem Alltag herausgehoben ist. Dasselbe gilt für die systemische Beratung. Egal, ob Coaching oder die verschiedenen Formen von Seminaren und Workshops: Es gibt einen klar abgegrenzten Rahmen, der sich von der täglichen Arbeitssituation absichtlich und offensichtlich unterscheidet.

Ganz anders verhält es sich aber mit Teilnehmender Beobachtung. Hier wird explizit darauf Wert gelegt, dass diese im Rahmen „normaler“ Alltagssituationen stattfindet. Dass der/die ForscherIn soweit als möglich „normaler“ und selbstverständlicher Teil dieser Situationen wird, ist eine der großen Herausforderungen im Forschungsprozess.

Was kann teilnehmend beobachtet werden?

Wie und wofür Teilnehmende Beobachtung eingesetzt wird, ist eine Frage des Forschungsthemas, des entsprechenden Forschungsdesigns, aber auch der zur Verfügung stehenden Zeit und Ressourcen. Im Rahmen einer von mir selbst durchgeführten Feldforschung in Nordindien war es beispielsweise ebenso relevant, sich mit den regionalen Webtechniken zu befassen wie mit Interaktionen von Händlern und Kunden auf dem Markt, auf welchem die Farben für die Wolle gehandelt wurden. Viele Facetten ließen sich ausschließlich durch Teilnehmende Beobachtung erfassen und verstehen.

Ein Beobachtungsobjekt, das im Rahmen der ethnologischen Organisationforschung eine eigentümliche Berühmtheit erlangt hat, ist die Kaffeetasse. Nicht nur, dass sie in der Literatur immer wieder auftaucht, werde ich selbst in Seminaren und Mails immer wieder darauf angesprochen.

Was hat es damit auf sich? Es geht hierbei nicht um die Kaffeetasse, oder eigentlich viel mehr um die Kaffeemaschine, sondern viel mehr darum, welche Rituale und welche Formen der Kommunikation sich in einem Unternehmen um diese herum gebildet haben und bilden. Das Verschwinden einer gemeinsamen Filterkaffeemaschine, so antiquiert diese auch gewesen sein mag, zugunsten eines Kaffeeautomaten für Kaffeekapseln kann mehr Individualität und Freiheit für die Akteure bedeuten. Gleichzeitig kann damit auch eine spezifische ritualisierte Art des Kaffeetrinkens abhanden kommen und damit verbunden eine komplexe Form der informellen Kommunikation, was weitreichende Folgen haben kann. Der neue Pausenraum kann noch so modern und bequem eingerichtet sein – wenn er bei den MitarbeiterInnen keine Akzeptanz findet, wird er (sofern dies von der Personalleitung überhaupt intendiert war) kaum zu einem Ort der Kommunikation und des informellen Austausches werden. Nicht selten sind es die (Rauch-)Pausen und andere Situationen informellen Zusammentreffens, die überraschende Einblicke in die Kultur einer Organisation zulassen (vgl. Brixa & Karall, 2008a und 2008b).

Ebenso interessant sind auch andere Alltagsrituale wie zum Beispiel Begrüßungen. Die vielen kleinen Nuancen bieten nicht selten Anhaltspunkte, um Hypothesen über den Status der beteiligten Personen sowie deren Beziehung zueinander zu bilden. Die Art der Begrüßung (Förmlichkeit versus „lockerer“ Umgang) kann auch Teil der Organisationskultur sein.

In diesen Bereich fällt auch eine Eigenheit, die sich mancherorts in Wien finden lässt: Für einen Nicht-Österreicher kann es durchaus ein „Kulturschock“ sein, wenn er am Pissoir beim Verrichten des kleinen Geschäfts mit „Mahlzeit“ gegrüßt wird. Für einen Mitarbeiter im öffentlichen Dienst ist es gelebter Teil des kulturellen Alltags.

Ein anthropologisches Kulturmodell als Tool zur Organisationsanalyse

Laut der US-Anthropologin Ann T. Jordan ist Kultur ein integrales System aus Ideen (Gedanken, Idealen, Einstellungen), Verhalten (Handlungen) und materiellen Erzeugnissen (Alltagsgegenstände, aber auch Architektur) (vgl. Jordan, 2003, S. 84ff.).

Dieses Modell ist einerseits eine mögliche Basis für die ethnologische bzw. kultur- und sozialanthropologische Organisationsforschung, es kann aber auch BeraterInnen eine andere Perspektive eröffnen. In Verbindung mit der Methode der Teilnehmenden Beobachtung ist es beispielsweise möglich, Widersprüche zwischen den beschriebenen Aspekten zu entdecken, welchen dann mit anderen (Forschungs-)Methoden weiter auf den Grund gegangen werden kann, wobei nicht übersehen werden darf, dass es in jedem Unternehmen verschiedene Kulturen und Sub-Kulturen gibt, die sich teilweise überschneiden, die ineinander eingebettet sind und die Überschneidungsflächen mit Kulturen außerhalb des Unternehmens haben.

Einige Stärken der Teilnehmenden Beobachtung in der Beratung werden sichtbar, wenn man sie vor dem Hintergrund des Kulturkonzeptes von Ann T. Jordan betrachtet.

Als ein Beispiel für Widersprüche kann das Folgende dienen: Ein Betrieb ist von seiner Anlage her auf kommunikativen Austausch hin angelegt, mit einladenden Sitzgelegenheiten und einer Kaffeemaschine im Zentrum (Artefakte). Die MitarbeiterInnen stehen aber durch die Vorgaben des Unternehmens (Ideen) in starker Konkurrenz zueinander. Nur ein Teil der MitarbeiterInnen zieht sich in kleinen vertrauten Gruppen in das tatsächliche informelle Kommunikationszentrum, nämlich einen sehr engen abgeschotteten Raucherbereich, zurück (Verhalten).

Resümee

Wie in diesem Beitrag gezeigt wurde, gehört Teilnehmende Beobachtung nicht zu den „harten“ wissenschaftlichen Methoden. Sie ist nur schwer planbar und im klassischen Sinne nicht erlernbar. Teilnehmende Beobachtung erfordert Erfahrung, aber auch fundierte Kenntnisse anderer empirischer Methoden, mit denen sie im Forschungsprozess verbunden wird, wobei sie so eng wie keine andere Methode mit der Person und Persönlichkeit des Forschers verbunden ist. Teilnehmende Beobachtung verlangt auch einen anderen Umgang mit Zeit oder wie Gerd Spittler es formuliert:

„Man kann nicht wie bei einem Interview Termine vereinbaren, sondern man muss präsent sein, warten, Chancen nutzen. Es gibt hier forschungsökonomisch gesehen viel Leerlauf, der dann allerdings durch überraschende Informationen belohnt wird“ (vgl. Spittler, 2001, S. 19).

Teilnehmende Beobachtung ist, um nochmals mit Gerd Spittler zu sprechen, eine „urtümliche Methode“, die sogar anachronistisch wirken kann, in einer Epoche, in der sich alles messen lassen muss und durch zunehmende Beschleunigung Zeit zur knappen Ressource geworden ist.

Die wissenschaftliche Welt der Ethnologie ist auf das Engste mit der Methode der Teilnehmenden Beobachtung verbunden. Der Anspruch, das alltägliche Handeln von Menschen zu verstehen, ist alleine aus der Perspektive des neutralen Beobachters oder Interviewers nicht zu erfüllen. Neben einer Sicht auf die Dinge mit den Augen der Betroffenen geht es auch darum, Handlungen tatsächlich nachzuvollziehen. Das gilt auch für Arbeitsabläufe. Teilnehmende Beobachtung bedeutet in diesem Sinne auch immer zu lernen. Im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Methoden sind auch die Gefühle des Forschers/der Forscherin Teil der Forschung. Wie fühlt es sich an, in diesen Räumen zu sein? Wie fühlt es sich an, sich in dieser Konferenz zu befinden? Ergebnisse sind nicht einfach reproduzierbar. Sie sind auch von Zufällen und der Person und Persönlichkeit des Forschers und seinem/ihrem Können abhängig.

Provokant könnte man sagen, dass Teilnehmende Beobachtung in mancherlei Hinsicht von systemischen BeraterInnen leichter zu akzeptieren sein müsste als von SozialwissenschaftlerInnen, die in erster Linie einen quantitativen Ansatz vertreten.

Ein weiterer Grund, weshalb gerade zur systemischen Beratung eine gewisse Nähe besteht, ist der Umgang mit Paradoxa. Teilnehmende Beobachtung ist im Grunde eine Methode mit paradoxem Charakter: Das betrifft die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz im Forschungsprozess ebenso, wie die Form der Beobachtung, welche zwischen alltäglichem Beobachten und systematischem Beobachten zu verorten ist und Interviews, die Elemente des freien Alltagsgespräches ebenso beinhalten wie jene des strukturierten Fragens.

Teilnehmende Beobachtung ist und bleibt das Herzstück der ethnologischen Forschung. Sie für die systemische Beratung zu erschließen, bedarf neben einer entsprechenden Integration jedoch auch des Umdenkens der AuftraggeberInnen. Es ist eine „urtümliche Methode“, die auch dabei hilft, eine Welt der Quick-Wins, Balkendiagramme und Powerpoint-Folien besser zu verstehen. – Ein Paradoxon ...?

Literatur

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Diesen Artikel zitieren als:
Karall, P. H. (2014). Teilnehmende Beobachtung - ein ethnologisches Forschungsparadigma als Impuls für die systemische Beratung. ARGE Forschungsjournal, 2014/01.

 

Autor

Mag. Peter H. Karall, MSc; Sozial- und Medienanthropologe, Lehrbeauftragter am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien; Systemischer Coach und Berater; Buchverleger und Editor.
Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Medientechnologien, Kultur und Gesellschaft, Identität, Kommunikation und Macht
E-Mail: peter.karallⒶunivie.ac.at

 

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