Clarissa Schmidt - Machtverhältnisse in der Dienstleistung. Dolmetschen. Rollenzuschreibungen und Verantwortung. Die mediative Haltung, ein mögliches Korrektiv?

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2017/01
ISSN 2312–5853

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Machtverhältnisse in der Dienstleistung. Dolmetschen. Rollenzuschreibungen und Verantwortung. Die mediative Haltung, ein mögliches Korrektiv?


Clarissa Schmidt1, 

Zusammenfassung

MediatorInnen wird oft zugeschrieben, dass sie sich um die Friktionen in der Kommunikation kümmern, diese ordnen und ins Möglichkeitenland führen. Diese Aufgabe kommt u.a. auch TranslatorInnen zu. Komplexe und widersprüchliche Rollenzuschreibungen bis hin zur Instrumentalisierung von TranslatorInnen werfen die Frage auf, wo die Verantwortung dieser Berufsgruppe liegen mag. Können konstruktivistisch eingestellte TranslatorInnen jenseits der ihnen zugeschriebenen Rollen Verantwortung übernehmen? Sollen Sie Verantwortung tragen? Wie kann diese definiert werden?
Um dieser Frage nachzugehen, wurden Memoiren berühmter Konferenzdolmetscher untersucht – vorwiegend die Schriften von Valentin M. Bereschkow (Ich war Stalins Dolmetscher, 1991), Rolf-Dietrich Keil (Mit Adenauer in Moskau, 1997), Ivan Ivanji (Titos Dolmetscher. Als Literat am Pulsschlag der Politik, 2007) und Paul Schmidt, einem Dolmetscher Hitlers (Statist auf diplomatischer Bühne, 1949) aber auch empirische Forschungsarbeiten. Anschließend wurde die mediative Haltung auf konstruktivistischem Hintergrund als mögliches Korrektiv untersucht.

Abstract

It is often said that mediators take care of frictions in communication, smoothing them out and finding ways to overcome. This challenge is one that translators, among others, are faced with as well. Complex and contradictory attributions of the role of a translator and the instrumentalism of translators lead to the question – what is the responsibility of this occupational group. Can constructivist translators take responsibility outside of the roles ascribed to them? Should they bear responsibility, and how can this responsibility be defined?
In order to answer this question, memoirs of famous conference interpreters were investigated, predominantly the writings of Valentin M. Berezhkov (At Stalin’s Side, 1994), Rolf-Dietrich Keil (Mit Adenauer in Moskau, 1997, “In Moscow with Adenauer”2), Ivan Ivanji (Titov Prevodilac, 2005, “Tito’s Interpreter”2) and Paul Schmidt, one of Hitler’s interpreters (Statist auf diplomatischer Bühne, 1949 – all not available in English, “Background actor on a diplomatic stage”2), as well as empirical research papers. Subsequently, the mediative stance with a constructivist background was examined as a possible corrective.

Keywords: Dolmetschen, Mediation, Verantwortung

1 Freiberufliche Dolmetscherin und Mediatorin.
2 Title translated by author.
Korrespondenz über diesen Artikel ist zu richten an Clarissa Genevieve Schmidt
E-Mail: clarissa.genevieve.schmidtⒶgmx.at

1.Einleitung

Die Berufsethik der TranslatorInnen hängt im Wesentlichen von ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich, von den ihnen zugeteilten Rollen und Aufträgen ab. Hönig bringt es auf den Punkt: „(…) typisch für den Umgang mit Übersetzungen ist, daß häufig die Laien die Regeln für die Experten festlegen.“ (Hönig zitiert nach Witte, 2000, S. 125).
Als allgemeine Richtlinien für das Dolmetschen gelten drei Kernpunkte: Verschwiegenheitspflicht, inhaltliche Sinnvollständigkeit der Wiedergabe und Unparteilichkeit (Thiéry 1985, Ammann 1990, CISR 2004, Lederer 1994, Stolze 1992). Aus diesen lässt sich die Rolle der Dolmetscherin / des Dolmetschers als ein reines Werkzeug ableiten.
Das Dolmetschen ist eine Dienstleistung für AuftraggeberInnen. Eines vorweg: es gibt so viele Rollen wie AuftrageberInnen, wobei von den jeweiligen DolmetscherInnen innerhalb eines Auftrags nicht selten abwechselnd oder gleichzeitig mehrere Rollen eingenommen werden müssen. „Dolmetschen ist eben nur eine Dienstleistung für die Verständigung, keine Tätigkeit eigenen Rechts, und zudem verdächtig. Man beachte das uralte italienische Epigramm mit dem Diktum traduttore traditore“ (Stolze, 2001, S. 16). Traduttore traditore bedeutet Übersetzer – Verräter, also: Übersetzen heißt verraten. Dazu schreibt Ivanji (2007): „Sie ärgerten sich, weil sie auch bei der Unterhaltung über Nebensächlichkeiten meine Hilfe als Dolmetscher brauchten. Am zweiten Tag allerdings – wir waren in Zagreb – hielten die beiden Juristen alter Schule ihre Tischreden auf Lateinisch und führten sogar ihr privates Tischgespräch mit Hilfe dieser klassischen Sprache.“ (Ivanji, 2007, S. 26)
In dieser Dienstleistung kann je nach Auftragskontext die Machtasymmetrie von vertikal bis horizontal variieren, mit allen erdenklichen Zwischenstufen, unterschiedlich transparent kommuniziert. In Anbetracht der Auftragsgebundenheit der DolmetscherInnen und der Berufsethik wird in der Translationswissenschaft zunehmend die Frage aufgeworfen, „wie Übersetzerinnen und Übersetzer ihre kritische Einstellung in der Praxis selbst einbringen können bzw. dürfen. Sollen sie Zensur oder Korrektur (…) üben? Ist es sinnvoll oder ausreichend, nur solche Texte zu übertragen, die man politisch vertreten kann?“ (Stolze, 2011, S. 213). Diese Frage erhält in der Befragung von Memoiren berühmter Dolmetscher, die in Diktaturen arbeiteten, einen besonderen Stellenwert. Wo liegen die Grenzen einer ‚Verbesserung‘ - ist die derzeit viel behandelte Frage, zumal die Übersetzerethik dies eigentlich verbietet.
Anthony Pym widmet sich in einem postmodernen Ansatz dieser Frage (zwar in Bezug auf literarische Übersetzungen) und vertritt eine hier erwähnenswerte These, wonach das oberste ethische Ziel eines Übersetzers die Förderung von langfristiger „cross-cultural cooperation“ sei. (Pym, 1997). Laut allgemeiner Translationstheorie ist Translation eine Sondersorte interkultureller Kommunikation mit dem Ziel der Überwindung von Kulturbarrieren (Witte 2000, S. 17).

2. Rollenzuschreibungen

2.1. Widersprüchliche Rollenzuschreibungen. Empowerment – Disempowerment

Die Dolmetschtätigkeit wurde in diversen empirischen Studien (Pöllabauer, 2005; Sami, 1999; Simeoni, 1998; Donk, 1994) untersucht und als komplex, reich an subtilen und widersprüchlichen Erwartungen seitens der AuftraggeberInnen bezeichnet. Sami (1999) geht davon aus, dass „die Hinzuziehung von DolmetscherInnen eine weitere Belastung der bereits fragilen Vernehmungssituation nicht deutschsprachiger Beschuldigter“ (Sami, 1999, S. 206) bringe. Demnach ist die Rolle von DolmetscherInnen „von widersprüchlichen Erwartungen bestimmt“ (ebd.) wie auch jene der KonferenzdolmetscherInnen (Ivanji), Titos Dolmetscher, 2007, S. 13): „Ich wusste nicht, was ich tun sollte oder durfte; in einem Augenblick korrigierte ich ihn laut, mehr instinktiv als absichtlich, und erschrak gleichzeitig darüber; ich wusste ja nicht, ob sich das schickte.“ Eine Anforderung an Paul Schmidt, Dolmetscher Hitlers, in Abwesenheit des Oberkellners: „‘Monsieur Schmidt, faites la jeune fille de la maison‘, hatte Briand, wie schon manches liebe Mal bei früheren Unterhaltungen, zu mir gesagt und mich damit zur Hausfrau dieser deutsch-französischen Teegesellschaft zu dritt ernannt.“ (Schmidt, 1949, 181). Reichertz (1998) beschreibt in einer empirischen Studie die Überfrachtung der Rollenzuschreibungen: „Mal sitzt der Dolmetscher beim Beschuldigten, mal neben dem Polizisten, mal zwischen den Parteien. Mal definiert er sich als Übersetzungsmaschine, mal als Kulturtransformator, mal als Hilfspolizist, mal als Anwalt, mal als Ankläger, mal als Aushändler in Sachen kultureller Normalität. Mal wird er behandelt als Experte mit Insiderwissen, mal als Komplize, mal als Sprachcomputer, mal als Handlanger.“ (Reichertz 1998, S. 273.)
Je nach Auftrag erfahren die DolmetscherInnen explizit oder implizit Empowerment oder Disempowerment – auch während des Prozesses variierend. Der Auftraggeber bzw. die Auftraggeberin sind als solche auch dazu berechtigt, den DolmetscherInnen während des Auftrages Empowerment oder Disempowerment zukommen zu lassen. „Da ein ‚reiner Übersetzer‘ (…) für Vernehmungen wenig geeignet ist, stimuliert der Vernehmungsbeamte die Dolmetscherin zu mehr Eigeninitiative.“ (Donk, 1996, S. 181).

2.2. Explizite präskriptive Rollenvorgaben. Dis-empowerment.

2.2.1. DolmetscherInnen als Werkzeuge

In institutionalisierten Kommunikationssituationen (Gerichtsdolmetschen, Verhören) werden von ÜbersetzerInnen schriftlich vor allem Verschwiegenheitspflicht und inhaltliche Treue bei der Translation verlangt, wobei in den Gesetzestexten und damit verbundenen Richtlinien wortgenaue Verdolmetschung und zugleich Sinnvollständigkeit der Übertragung verlangt werden, was nachweislich aufgrund der Inkompatibilität der Sprachen nicht möglich ist. «N’interprétez que les mots qu’on vous a demandé d’interpréter, ni plus, ni moins. Si vous ne connaissez pas un mot ou si vous en avez oublié la signification, dites-le au président de l’audience. N'inventez pas. (…) Vous ne devez ni résumer, ni paraphraser, ni exagérer. Faites bien attention de ne pas changer le sens de l’information communiquée.» (Guide de l’interprète. CISR. Juillet 2004. Canada) „Dolmetschen Sie nur die Wörter, die man Sie gebeten hat zu dolmetschen – nicht mehr und nicht weniger. Wenn Sie ein Wort nicht kennen oder seine Bedeutung vergessen haben, sagen Sie es dem Verhandlungsvorsitzenden. Erfinden Sie nicht. (…) Sie dürfen nicht zusammenfassen, nicht paraphrasieren, nicht übertreiben. Achten Sie gut darauf, den Sinn der mitgeteilten Information nicht zu verändern.“ (Übersetzung der Autorin, in weiterer Folge Ü.A.)
In institutionalisierten Kommunikationssituationen sind jegliche persönliche Kommentare oder Ergänzungen strengstens untersagt. Die DolmetscherInnen dürfen nur das ‚sprechen‘, was von dem Sender gesagt wurde. Ausgenommen sind Mitteilungen an den Gesprächsführer (RichterIn, Polizeibeamter bzw. –beamtin), dass „ein Wort nicht verstanden wurde“. (CISR, 2004). Bereschkow, Dolmetscher Stalins, berichtet von einem Auftrag: „‘Hören Sie mir aufmerksam zu. Übersetzen Sie Hull wörtlich das Folgende: Die sowjetische Regierung (…). Aber solange möchten wir darum bitten, dies geheimzuhalten. Und Sie selbst sprechen bitte leiser, damit uns niemand hört. Verstanden?‘ ‚Verstanden, Genosse Stalin‘, antwortete ich flüsternd.“ (Bereschkow, 1991, S. 397). Und Ivanji, Dolmetscher Titos: „Sie (DolmetscherInnen) werden mehr als Werkzeuge oder Automaten und weniger als Persönlichkeiten behandelt.“ (Ivanji, 2007, S. 19-20). Hitlers Dolmetscher Paul Schmidt schreibt: „Etwas Eigenes zu sagen, ist für einen Dolmetscher eine Todsünde, da das naturgemäß zu einer völligen Verwirrung der Partner führen muß, von denen jeder annimmt, sein Gegensprecher und nicht der Dolmetscher habe sich geäußert.“ (Schmidt, 1949, S. 459)
Es finden sich in den Memoiren auch Beispiele für das Misslingen der vorgegebenen Rolle als neutraler Automat, der „nur wörtlich“ zu übersetzen hat. „Michaelis hatte zwar alles genau und richtig übersetzt, aber er hatte sich bei dem Passus über das Ruhrgebiet etwas im Ton vergriffen und, wohl unter dem Einfluß des jeden Deutschen in dieser Frage beherrschenden Gefühls, mit etwas zu viel Nachdruck auf französisch gesagt: ‚Und von der Ruhr… muß selbstverständlich ebenfalls gesprochen werden‘. Ich war zwar bei dem Vorfall nicht zugegen, aber wenn er mit Herriot etwa so gesprochen haben sollte wie mit mir vor einem Jahr in den Twee Steden und im Friedenspalast im Haag, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, warum der französische Ministerpräsident bei diesen Worten meines Kollegen in äußerste Aufregung geriet, die Übersetzung unterbrach und sogar drohte, sofort abzureisen, wenn noch ein einziges Wort von der Ruhr gesprochen würde.“ (Schmidt, 1949, S. 45f). Paul Schmidt verdankt seine Dolmetscherkarriere Michaelisʻ wiederholten, die Rollen sprengenden Fehltritten. „Aber Michaelis wußte auch, was er leistete. Er hatte die Allüren eines weltberühmten Stars. Das mag zwar berechtigt gewesen sein, aber es brachte ihm auch in dem nüchternen Behördenbetrieb immer wieder große Schwierigkeiten. Denn ein Dolmetscher ist nun einmal nicht die Hauptperson, wie Michaelis manchmal anzunehmen schien. Er steht zwar im Mittelpunkt des Geschehens und spricht für die Großen und Größten, aber er muß sich bewußt sein, daß er trotz allen äußerlichen Glanz nur ein kleines, wenn auch wesentliches Rädchen im großen Uhrwerk des internationalen Getriebes ist. Das vergaß Michaelis immer wieder, und so gab es ständig neue Schwierigkeiten mit den Delegationen, denen er angehörte. Auch jetzt wieder hatte er sich mit dem deutschen Vertreter in diesem Prozeß, dem ehemaligen Justizminister Schiffer, entzweit. Und diesem Zwist verdankte ich meine Reise nach Holland.“ (Schmidt, 1949, S. 19).
Simeoni formuliert das Ergebnis seiner empirischen Studie wie folgt: „The translator has become the quintessential servant: efficient, punctual, hardworking, silent and yes, invisible.“ (Simeoni, 1998, S. 11). Soweit zur Sinnvollständigkeit der Übertragung durch unsichtbare DolmetscherInnen als Diener, Werkzeuge oder Automaten.

2.2.2. Neutralität. Unparteilichkeit.

Die vorgeschriebene Unparteilichkeit konnte ich in den studierten Memoiren nicht konstatieren, im Gegenteil. Rolf-Dietrich Keil (1997), Dolmetscher Adenauers schreibt: „Es gibt keine schlimmere Situation für einen Dolmetscher, als wenn er spürt, daß der Gegenpart seines Kunden diesem Gegenüber im Recht ist.“ (Keil. R.-D., 1997). Ivanji, Titos Dolmetscher, spricht von der „eigenen Seite“ und Identifikation. „Zu den Gesprächen möchte ich noch sagen, daß ich einige Mühe hatte, mich mit dem Wunsch durchzusetzen, daß ich Titos Worte und der deutsche Dolmetscher Ulbricht übersetzen sollte. Für mich war immer wichtig, die Meinung der ‚eigenen Seite‘ wiederzugeben, mit der ich mich identifizieren konnte.“ (Ivanji, 2007, S. 85). Bereschkow, Dolmetscher Stalins, bekommt „einen Großmachtkoller“. „Als ich Botschafter von der Schulenburg zum Ausgang begleitete, gingen die Gefühle mit mir durch. Unsere Stützpunkte am Bosporus und an den Dardanellen! Das war phantastisch. Mir fielen die Worte aus dem Lied über den Großfürsten Oleg ein: ‚Dein Schild an den Toren von Konstantinopel‘. Mir fiel auch ein, daß England und Frankreich Rußland im ersten Weltkrieg zugesichert hatten, es werde nach der Niederlage der an der Seite Deutschlands kämpfenden Türkei Konstantinopel und die Meerengen erhalten. Damals geschah das nicht. Jetzt könnte es Wirklichkeit werden. Würde Stalin tatsächlich jetzt den alten Traum der russischen Herrscher verwirklichen? Dafür würde man ihn wirklich als weise und groß preisen. Ich bekam einen Großmachtkoller und dachte überhaupt nicht daran, wieviel Tränen und Blut vergossen werden müßten, wenn diese Pläne verwirklicht würden.“ (Bereschkow, 1991, S. 296).
Bereschkow identifiziert sich sogar mit dem Auftraggeber Stalin und schreibt in der Wir-Form über ein übersetztes Angebot der Gegenseite: „was wir für absolut unannehmbar hielten“. (Bereschkow, 1991, S. 305). Ebenso Paul Schmidt, Dolmetscher Hitlers: „Unser sorgfältiger Schlachtplan war ins Wasser gefallen.“ (Schmidt, 1949, S. 261). Während der Gespräche von Adenauer mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin unter Chruschtschow führt die innere emotionale Beteiligung des Dolmetschers sogar zu einem kognitiven Blackout. Angesichts der Tragweite des Geschehens eine humane Reaktion: „Auch ich, der ich direkt hinter beiden stand, war von dieser spontanen Demonstration des Bewußtseins gemeinsamer Verantwortung ebenso überrascht wie ergriffen. Die Folge war, daß ich bei dem folgenden kurzen und sehr einfachen Gespräch plötzlich eine Art Black out hatte. Bulganin hatte Adenauer vorgeschlagen, in Zukunft persönliche Briefe auszutauschen. Adenauer antwortete: ‚Gerne‘. Und bei diesem schlichten Worte setzte es bei mir aus.“ (Keil, R.-D., 1997, S. 105f.).
Die Translationswissenschaft hat die Neutralität, bzw. Parteilichkeit bereits thematisiert. Prunč bringt es auf den Punkt: „Weil Translation per se parteiisch ist, ist es legitim, sie in den Dienst eigener politischer und kultureller Anliegen zu stellen.“ (Prunč 2007, S. 296).

2.3. Überfrachtung der Rollen. Empowerment.

In etlichen Dolmetschsituationen lässt sich eine Überfrachtung der Rollen feststellen. „Man beschränkt sich auf widersprüchliche (präskriptive) Rollenanforderungen, die DolmetscherInnen oft gleichzeitig die Funktion von neutralen SprachmittlerInnen, von GutachterInnen oder KulturmittlerInnen zuschreiben.“ (Pöllabauer, 2005, S. 38-39).
Kommunikationswissenschaftler aus Essen (Donk, Schröer, Reichertz und Riedl) haben sich in empirischen Studien der Rolle der DolmetscherInnen in polizeilichen Verhören gewidmet und zeigen, dass die Praxis der AuftraggeberInnen die oben angeführten expliziten Grundsätze des Berufes wiederlegt. Donk (1994) stellt fest, dass die DolmetscherInnen zur Herstellung des notwendigen kooperativen Kontakts, „die Rolle eines Hilfspolizisten annehmen (müssen)“ (Donk, 1994, S. 148) und dass „Dolmetscherhilfspolizisten (…) (für) die polizeiliche Vernehmung mit nichtdeutschsprachigen Ausländern unverzichtbar (sind)“ (Donk, 1994, S. 53).

2.4. Implizite Erwartungen an die TranslatorInnen. Empowerment

Für das Konferenzdolmetschen im internationalen politischen Kontext gelten ähnliche theoretische explizite Regeln wie für das Konsekutivdolmetschen im institutionalisierten Kontext: Verschwiegenheitspflicht, Sinnvollständigkeit der Übersetzung, keine inhaltliche Teilnahme oder Intervention, Wahrung einer neutralen, unparteilichen Haltung.
Die Praxis sieht anders aus. Implizit wird aktives Eingreifen erwartet oder zugelassen. Dazu schreibt Hitlers Dolmetscher, Paul Schmidt: „Schließlich holte man die Dolmetscher zu Hilfe, meine Kollegen vom Völkerbund, (…). Sie erwiesen sich als humorvolle Diplomaten, (…). Mit Hilfe dieser Übersetzungskünste wurde jedenfalls die Krise beigelegt (…).“ (Schmidt, 1949, S. 178). „Bei anderen erregten Aussprachen (…) gelang es mir, die Ruhe wieder herzustellen.“ (Schmidt, 1949, S. 408). „Freunde (…) erzählten (…), ich hätte (…) gewirkt wie ein Lehrer, der eine unruhige Schulklasse in Ordnung zu halten versucht.“ (Schmidt, 1949, S. 415).
Ivanji unterlässt bewußt eine Übersetzung, Auftraggeber Tito bedankt sich dafür: „Nachdem Tito dem Gast angeboten hatte, als Erster zu sprechen, holte Honecker einen Stapel Papier aus seiner Brusttasche und begann etwas furchtbar Langweiliges vorzulesen (…), was nichts mit diesem Besuch zu tun hatte. Ich merkte an Titos Gesichtsausdruck, daß er sich ärgerte; seine Backenknochen bewegten sich, als kaute er etwas Unverdauliches. Nachdem der Gast seinen Redeschwall endlich beendet hatte, schwenkten Scheinwerfer und Kameras sofort in Richtung Tito. Er brummte unwirsch: ‚Danach habe ich nichts zu sagen.‘ Ich übersetzte das nicht. Tito warf verwundert einen Blick zu mir hinauf, der ich neben ihm, dem Sitzenden, stand, ich starrte eisern vor mich hin und schwieg. Tito atmete tief ein und sagte leiser: ‚Ich habe dem, was Genosse Honecker gesagt hat, nichts hinzuzufügen, aber wenn Sie Fragen an mich haben, bitte…‘ Das übersetzte ich natürlich. Man stürmte mit Fragen auf ihn ein. Er antwortete gelassen. Als die Konferenz zu Ende gegangen war, stand Tito auf und drückte mir den Unterarm: ‚Du hast recht gehabt, danke!‘ Wir hatten einander verstanden. Ich hatte schweigend gefragt: Genosse Präsident, wollen Sie das wirklich so gesagt haben? Ihn konnte ich mit der Überzeugung nicht einfach ‚verbessern‘, wie ich es mit manchen anderen Politikern mitunter getan habe – schon deshalb, weil er selbst so gut Deutsch sprach.“ (Ivanji, 2007, S. 98-99, Hervorhebung d. A.)
Ivanji „bewirkt“ auch Einiges: „In Hamburg hatte ich später die Gelegenheit, den deutschen Premier und den jugoslawischen Außenminister miteinander zu versöhnen. Es fand eine Besichtigung des Hafens statt. Schmidt ließ die Hamburger Honorationen dem hohen Gast vom Schiff aus die Sehenswürdigkeiten erklären und stand etwas abseits. Ich wurde nicht gebraucht, weil sich Tito direkt auf Deutsch unterhielt, also erzählte Minic, Schmidt sei vor vielen Jahren zur Zeit einer großen Flutkatastrophe Innensenator von Hamburg gewesen und noch heute stolz auf seine damalige allseits anerkannte Leistung; man könne ihn doch danach fragen, um ihn ins Gespräch zu ziehen. Der Minister begriff und erzählte, wieviel Fabelhaftes er über den Herrn Bundeskanzler gehört habe, ich dolmetschte und schmückte den Wortschwall weiter aus. Jedermann freut sich, wenn er über Erfolge erzählen kann, und die beiden schlossen Frieden. Ein Dolmetscher kann manchmal einiges bewirken, wenn er nicht nur Wort für Wort übersetzt.“ (Ivanji, 2007, S. 52)

2.5. Paradoxe Positionseinnahmen von DolmetscherInnen

Die Widersprüchlichkeit der theoretischen und praktischen Rollenzuschreibungen ermöglicht es auch DolmetscherInnen, sich paradoxal zu positionieren. „Selten habe ich so bedauert wie an jenem Abend, als Dolmetscher nicht in die Verhandlung eingreifen zu können. Etwas Eigenes zu sagen, ist für einen Dolmetscher eine Todsünde, da das naturgemäß zu einer völligen Verwirrung der Partner führen muß, von denen jeder annimmt, sein Gegensprecher und nicht der Dolmetscher habe sich geäußert. So blieb mir weiter nichts übrig, als zähneknirschend zuzusehen, wie hier vor meinen Augen bewußt eine Friedensmöglichkeit ausgeschaltet wurde.“ (Schmidt, 1949, S. 459) In ihrem Diskurs ist es den DolmetscherInnen möglich, sich der menschlichen Verantwortung zu entziehen, indem die reinen Zuständigkeiten vorgeschoben werden. Paul Schmidt bedauert hier, nicht eingreifen zu können, schrieb wenige Seiten davor von den Übersetzern als „humorvolle Diplomaten“ (Schmidt, 1949, S. 178)

2.6. Zuständigkeit oder Verantwortung der TranslatorInnen

In diesem Zusammenhang schreibt Thiéry (1985): „Wenn ein professioneller Konferenzdolmetscher einen Auftrag annimmt, verpflichtet er sich in erster Linie dazu, die ihm anvertraute Botschaft treu und vollständig zu übermitteln; Hier geht es also um eine Verantwortung gegenüber demjenigen, dessen Rede er verdolmetschen wird.“ (Ü.A.) So gesehen sind TranslatorInnen in Erfüllung ihres Auftrages offiziell nur dem Text gegenüber verantwortlich. Sie tragen auch keine Verantwortung für den Inhalt des Gesagten. „Schieben wir zu allererst jegliche Vorstellung beiseite, dass der Dolmetscher Dritten gegenüber Verantwortung für Aussagen trägt, die er in der Ausübung seines Berufes zu tätigen hat: selbstverständlich liegt diese bei dem Urheber.“ (Thiéry, 1985, Ü.A.)

2.7. Instrumentalisierung von DolmetscherInnen

Es drängt sich die Frage auf, ob Verantwortungsfreiheit menschenwürdig ist, ob sie überhaupt möglich ist. Mein Eindruck ist, dass Thiéry wie viele AuftraggeberInnen, Verantwortung mit Zuständigkeit verwechselt. TranslatorInnen sind für die stimmige Übertragung der Inhalte zuständig. Sind sie darüber hinaus frei von Verantwortung? Ist es menschenwürdig, sich verantwortungsfrei an der Fortführung eines Systems zu beteiligen? Wenn Verantwortungsfreiheit besteht und nur noch auftragsgebundene Zuständigkeit Raum hat, wird Instrumentalisierung zugelassen.
Franz Pöchhacker betont, dass die Instrumentalisierung von DolmetscherInnen für Ideologien nicht ausschließlich ein historisches, sondern auch ein gegenwärtiges Problem ist. „Both historical examples and current controversies have interpreters actively involved in, rather than merely mediating between, powerful ideologies“ (Pöchhacker, 2006).

3. Zur Frage der Verantwortung in der Translation

Können konstruktivistisch eingestellte TranslatorInnen jenseits der ihnen zugeschriebenen Rollen Verantwortung übernehmen? „Die CISR vertritt die Ansicht, dass ein Dolmetscher, der während einer Verhandlung zurückzutreten versucht, dabei Skrupel seines Gewissens vorbringt, nicht korrekt und nicht professionell agiert; die Rolle des Berufsdolmetschers ist zu dolmetschen und nicht zu urteilen.“ (CISR, Guide le l’interprète, 2004, Ü.A.)

3.1. Verantwortung in der Mediation und im Dolmetschen

In Duss-von Werdts „Einführung in Mediation“ (2011) vergleicht der Autor Demokratie und Marktwirtschaft und setzt diese in Relation zu Mediation. Die Mediation wird als strukturell horizontal angelegt beschrieben. Das Menschenbild stellt hier die Würde in den Vordergrund und die Verantwortung für sich selbst und die anderen. Gerade diese Merkmale der Mediation sind für die Beantwortung meiner Frage relevant und bieten sich für einen Strukturvergleich mit Translation an. Duss-von Werdt (2011) fragt: „Sind es die autopoietischen Strukturen des Marktes, welche eigendynamisch auch die Beteiligten steuern, statt von ihnen gesteuert zu werden?“ (Duss-von Werdt, 2011, S. 92). Und stellt später fest: „Konstruktivistisch kann gefolgert werden, daß Handlungen Haltungen entsprechen und Haltungen auf einem intersubjektiven Wirklichkeitskonstrukt basieren. Kommt es zur Instrumentalisierung der Demokratie durch die Herrschaft des ‚Geldwertes‘, verändert sich das politische Gebaren grundlegend. Im Zentrum steht nicht mehr das Allgemeinwohl, sondern partikuläre Interessen.“ (ebd.). In Anlehnung an Duss-von Werdts Formulierung, diesmal auf das Dolmetschen bezogen: Kommt es zur Instrumentalisierung der DolmetscherInnen durch die Herrschaft des Auftrages, verändert sich die Qualität von Kommunikationen grundlegend. Im Zentrum steht nicht mehr das Allgemeinwohl, sondern partikuläres Interesse.
In Anlehnung an Duss-von Werdts Tabelle „Strukturvergleich von ‚freiem‘ Markt und Mediation“ (Duss-von Werdt, 2011, S. 95), habe ich einen Strukturvergleich zwischen Mediation und Dolmetschen aufgestellt – zur bildhaften Darstellung der ausgeführten Beobachtungen (s. u., Tabelle1). Weil die Frage der Verantwortung beim Dolmetschen eine doppelte ist – die zugeschriebene auftragsabhängige Zuständigkeit und die persönliche menschliche Verantwortung – habe ich der Tabelle eine Spalte für das psychische System hinzugefügt.

3.2. Strukturvergleich

Tabelle 1: Strukturvergleich

 

3.3. Zur Bedeutung der Haltung

Nach diesem Strukturvergleich stellt sich die Frage, ob sich eine systemisch-mediative Haltung auf den Prozess des Konsekutivdolmetschens auswirken kann, wenn „Handlungen Haltungen entsprechen“ (Duss-von Werdt, 2011, S. 92).
Diese Frage habe ich vor dem Hintergrund der Luhmannschen Theorie zu vertiefen versucht. Auf den ersten Blick scheinen der Konstruktivismus und die Systemtheorie das Ende der Ethik zu bedeuten. Wo endet für einen konstruktivistisch eingestellten Menschen die Toleranz? Stellt die mediative bedingungslose Wertschätzung des Gegenübers eine ethische Gefahr dar, was sich als Frage bei der Auseinandersetzung mit Memoiren von DolmetscherInnen in Diktaturen einstellt. Lösen sich instrumentalisierte TranslatorInnen im autopoietischen Kommunikationssystem auf? Sind instrumentalisierte TranslatorInnen Opfer des übergeordneten Systems oder lässt der Konstruktivismus einen Raum für individuelle menschliche Ressourcen offen, für Haltungen, aus denen dann Handlungen entstehen können?

3.3.1. Bewusstsein und Kommunikation

Für Luhmann (1988) ist Bewusstsein (das immer strukturdeterminiert ist) ein Medium sprachlicher Kommunikation. Die Sprache ermöglicht, dass Bewusstsein für Kommunikation verwendet wird. Das System kann nicht nicht kommunizieren. Auf der Beobachtungsebene ist es dennoch möglich, „dem System sinnhafte Zusammenhänge, Biographie, Absichten (wohlgemerkt:) zu unterstellen.“ (Ameln, 2004, S. 103). Dies geschieht u.a. „mit den Ausstattungen, die uns Logik und Hermeneutik vorführen: mit der Befähigung zur Verneinung (…)“ (Luhmann, 1988, S. 896).
Der Sinnbegriff ist es, der psychische und soziale Systeme von den lebenden unterscheidet. Lebende Systeme sind in Luhmanns Theorie sozialer Systeme (1984) biochemische Vorgänge, psychische Systeme Gedanken oder Vorstellungen und soziale Systeme Kommunikationen. (von Ameln, 2004, S. 110). Psychische und soziale Systeme sind an Sinn gebunden und können nur auf der Grundlage von Sinn agieren. Soziale und psychische Formen werden durch Sinn erzeugt. Luhmann (1984) stellt in der Folge fest, dass Sinn Möglichkeit und Zwang zur Selektion ergibt (also auch externe Selektionen in der Umwelt). (von Ameln, 2004, S. 113). Sinn kann man hier als die Folie des Wirklichen, Möglichen aber auch Unmöglichen verstehen. Sinn umfasst demnach nicht nur Wirkliches sondern auch Mögliches und Negatives (Unwirkliches, Unmögliches).
„Nur lebende Systeme können durch Leben reproduziert werden, nur Kommunikationssysteme durch Kommunikation. Es ist nicht möglich, chemische Ereignisse ‚autopoietisch‘ an Bewußtseinsereignisse anzuschließen oder umgekehrt, obwohl natürlich Kausalbeziehungen bestehen (…). Nur aus der Selbstreferenz (…) folgt der Realitätsaufbau als Emergenz unterschiedlicher Systemtypen.“ (Luhmann, 1991, S. 607f.)
Diese Aussage führt zu der Annahme, dass Bewusstsein durch Kommunikation nicht unmittelbar erreichbar ist. Außerdem ist bei Luhmann Moral „ein Codierprozeß mit der spezifischen Funktion, über Achtungsbedingungen Achtungskommunikation (…) zu steuern.“ (Luhmann, 1991, S. 51). Moralität ist hier relativiert. Sie ist nicht eigenständig und nicht an die geistige Beschaffenheit auch nicht an das Bewusstsein eines Subjekts gebunden. Das System Kommunikationen Paul Schmidt, Hitler, Ribbentrop (als Beispiel) war als Kommunikationssystem stabil, autopoietisch geschlossen, der interne „Kodierprozeß“ war gewahrt.

3.3.2. Souveränität des Einzelnen in Systemen

Worin besteht am Beispiel der Dolmetschhandlung noch die Souveränität des Einzelnen innerhalb eines autopoietischen Systems? Wie können sich DolmetscherInnen vor dem Instrumentalisiertsein schützen? Sind es „die Ausstattungen, die uns Logik und Hermeneutik vorführen: mit der Befähigung zur Verneinung (…)“? Diese liegen auf der Bewusstseinsebene, die konstruktivistisch gesehen aber durch Kommunikation nicht unmittelbar erreichbar ist. Nicht unmittelbar, aber mittelbar? Ja, weil „natürlich Kausalbeziehungen bestehen“ (Luhmann, 1991, S. 607-608).
Von dem psychischen System „Paul Schmidt“ hätten die „Ausstattungen, die uns Logik und Hermeneutik vorführen: mit der Befähigung zur Verneinung (…)“ ihm die Möglichkeit gegeben, aus dem System auszusteigen.
Aufgrund der Undurchdringlichkeit der beteiligten Systeme ist endgültige Gewissheit ausgeschlossen. Kommunikation setzt ja bei Luhmann die Unergründlichkeit des menschlichen Inneren voraus (Luhmann, 1990, S. 95). Wie gelangt dann ein konstruktivistisch eingestellter Mensch zu ausreichend „Gewissheit“ über jene Sinninhalte, nach denen das System agiert, um eine Entscheidung zu treffen?
Für die Zurechnungen auf der Sachdimension hätte Paul Schmidt intern oder extern attribuieren können, als Handeln oder als Erleben. Paul Schmidt hätte externe Selektionen (in der Umwelt) als Erleben attribuieren können „und die Anknüpfung für weitere Maßnahmen (…) in der Umwelt des Systems (suchen können) (obwohl das System als erlebend beteiligt war)“ (Luhmann, 1991, S. 124).
Von seiner Interpretation hing es ab, wie er die Selektion attribuiert hat. Diese als Handeln zu attribuieren ermöglichte weiteres Handeln und bestärkte die Weiterführung des Systems (rekursives sich selbst immer wieder neu erschaffendes System). Es als Erleben zu attribuieren hätte „zu der Reproduktion von Sinn“ (Luhmann 1991, S. 124) geführt. Damit wäre ihm die Möglichkeit gegeben, auszusteigen, das Mesosystem vielleicht damit zu unterbrechen und somit sogar das Makrosystem eventuell zu „stören“. (Anbringen möchte ich an dieser Stelle, dass es mir fern liegt, in irgendeiner Weise das Verhalten von DolmetscherInnen in Diktaturen zu verurteilen. Dazu habe ich weder die erlebten Elemente, noch ausreichend Reflexion. Mir geht es um die Untersuchung reflektierter Praxis.)
Aufgrund der Undurchdringlichkeit der beteiligten Systeme ist endgültige Gewissheit ausgeschlossen. Wie gelangt ein konstruktivistisch eingestellter Mensch nach der Attribuierung „im Erleben“ zu ausreichend „Gewissheit“ über jene Sinninhalte, nach denen das System agiert? Und zwar ausreichend, um eine Entscheidung zu treffen? Und wenn „gut“ im systemisch-konstruktivistischen Sinne darauf beruht, Komplexität zu reduzieren, um Stabilität zu gewährleisten?

3.3.3 Moralbegriff bei Luhmann

Als Indikator für einen akzeptierbaren Einbau des Ego als Alter und als alter Ego in die Sichtweise und Selbstidentifikation seines Alters dient der Ausdruck von Achtung und die Kommunikation über die Bedingungen wechselseitiger Achtung.
„Ego achtet Alter und zeigt ihm Achtung, wenn er sich selbst als Alter im Ego wiederfindet, wiedererkennt und akzeptieren kann oder doch sprechende Aussichten zu haben meint. (…) Das Gelingen perspektivisch integrierter Kommunikation wird durch Achtungserweise entgolten, das Mißlingen durch Achtungsentzug bestraft, und all das in abstufbarer Dosierung.“ (Luhmann & Pfürtner, 1977, S. 43 zit. nach Anzenbacher, 1992, S. 185).
Dieser Gedanke zeigt, dass die Antwort auf meine Frage nicht aus dem Moralbegriff von Luhmann kommen kann. Je größer das System, desto allgemeiner müssen die Achtungsbedingungen als „Codierprozess“ sein, um das System zu stabilisieren. Simon (2001) führt folgendes aus: „Die expressive Ordnung kann längerfristig nur aufrechterhalten werden, wenn die Mitglieder einer Gruppe nicht nur Selbstachtung zeigen, sondern auch ein bestimmtes Maß an Rücksichtnahme auf die Selbstachtung der anderen“ (S. 199). Und weiter zum Individuum: „Ob er die eine oder andere Alternative wählt, wird in der Regel von seiner Selbstachtung bzw. dem Maß der Achtung, daß ihm seiner Meinung nach von seinen Mitmenschen gezollt werden sollte, abhängen.“ (Simon, 2001, S. 199-200).
In einem kritischen Exkurs seiner Einführung in die Ethik behauptet Anzenbacher (1992), dass der Luhmannsche Moralbegriff „zwangsläufig in ein Reduktionismus (gerät), der genau das mißverstehen muß, worum es geht.“ (Anzenbacher, 1992, S. 186), denn: „Der Kern dieser Relativierungen liegt letztlich in der methodischen Entscheidungen der Systemtheorie, daß Systeme „nicht aus Individuen, sondern aus Kommunikationen bestehen“; mit der Auflösung des Subjekts in der Kommunikation verliert auch das moralische Subjekt „den privilegierten Status“ den es in der Tradition der Ethik hatte.“ (ebd.)

3.3.4. Ausstattungen von Logik und Hermeneutik

Diese Stellungnahme blendet einen Aspekt der Luhmannschen Beobachtungen aus: Luhmann räumt dem Menschen als psychisches System „die Ausstattungen, die uns Logik und Hermeneutik vorführen“, (auf der Bewusstseinsebene) ein. Gerade in diesen Ausstattungen situiert Luhmann nach meinem Verstehen eine selbstreferentielle innere Instanz des Individuums. Sie ist allerdings selbstreferentiell, autopoietisch und strukturdeterminiert. Ich habe auch nirgends einen Hinweis darauf gefunden, dass Subjekte sich in der Kommunikation „auflösen“. Im Gegenteil: „Wir gehen davon aus, daß soziale Systeme entstehen, wenn immer Personen zueinander in Beziehung treten. Die Einzelpersonen bleiben im Verhältnis zueinander, aber auch im Verhältnis zu den sich bildenden Sozialsystemen Umwelt. Sie verschmelzen sich weder miteinander, noch mit dem sozialen System. Ebenso bleibt von ihnen aus gesehen das soziale System (notwendige oder nicht notwendige) Umwelt. Für jedes soziale System, für die beteiligten Personen ebenso wie für das Sozialsystem, das sie bilden, ist die Umwelt stets komplexer als das System selbst.“ (Luhmann & Pfürtner, 1977, S. 43 zit. nach Anzenbacher, 1992, S. 184).
Aufgrund der Undurchdringlichkeit der beteiligten Systeme ist endgültige Gewissheit ausgeschlossen. Ich kehre zu den „Ausstattungen, die uns Logik und Hermeneutik vorführen“, zurück. Woher könnte sich diese innere Instanz ausreichend „Gewissheit“ holen, um verantwortend Stellung zu nehmen und daraufhin ihre Haltung zu einem menschenwürdigen Handeln zu gestalten?

3.3.5. Empathie als Korrektiv

„Das Gelingen perspektivisch integrierter Kommunikation wird durch Achtungserweise entgolten, das Mißlingen durch Achtungsentzug bestraft.“ Eine „perspektivisch integrierte Kommunikation“ verstehe ich als eine „empathische“ Kommunikation im Sinne der drei Momente des empathischen Bezuges von Matthes. Plé schreibt dazu, dass die italienische Soziologie „anknüpfend an Edith Steins Verständnis von Einfühlung (…) das Ineinandergreifen von Eigenerfahrung und Fremderfahrung konzipiert“ und eine von der Luhmannschen Systemtheorie „unterschätzte Möglichkeit aufweist: den Rückbezug externer Wahrnehmungen eines Subsystems auf dieses selbst. (…) Diesen Einbezug externer Erfahrungen definiert Archille Ardigò als empathische Öffnung („apertura empatizzante“). Was sie leistet ist ein Heraustreten aus der Geschlossenheit der Selbstreferenz und ein Lernen von Erfahrungen jenseits der Grenzen des je eigenen Funktionsbereiches.“ (Plé, 2003, S. 228).
Empathie ist eine bereits reflektierte und thematisierte Kompetenz von TranslatorInnen. Die studierten Memoiren weisen viele Kommentare zu gelebter Empathie auf. „Im Scherz habe ich öfter behauptet, der Dolmetscher, der auf jede Nuance der Sprache sehr genau aufpassen muß, sehe seine ‚Klienten‘ intellektuell in Unterwäsche.“ (Ivanji, 2007, S. 8) Hierbei wird ein spannungsvolles und widersprüchliches Verhältnis zur vorgegebenen Unparteilichkeit aufgezeigt.
Kann nicht empathisches Verstehen auch – statt zu Identifizierung – zu Abgrenzung (Verneinung im Sinne von Luhmann) führen? Die Zuteilung von Achtung als eine Haltung ermöglicht erst das perspektivisch integrierte Verstehen. Sie ist Voraussetzung. Was ist nun, wenn dieses Verstehen zu Verneinung führt, wie im Fall von Paul Schmidt, der zahlreiche Situationen perspektivisch integriert im Luhmannschen Sinne nicht nur „verstanden“ hat, sondern hermeneutisch/logisch durch Rückkoppelungen und Interpretationen „mitvollziehen“ konnte. Ist das möglich, dank der „Ausstattungen seiner Logik“?
Gerade in diesen „Ausstattungen“ situiert Luhmann nach meinem Verstehen – trotz Autopoiesis – eine innere Instanz des Individuums, die Potenzial zur Öffnung in vielen Richtungen hin hat - eine Öffnung, die von der italienischen Soziologie, wie Plé es ausführt, in eine dieser möglichen Richtungen weitergeführt wurde.

3.3.6. Energetische Offenheit laut Maturana

Operativ und informationell sind Systeme geschlossen, energetisch jedoch offen. Die Selbstreferenzialität ist durch die energetische Offenheit zwar nicht aufgehoben, sie erhält aber ein Gegengewicht, ein potenzielles Korrektiv. So verstehe ich auch die Aussage Duss-von Werdts: „Systemtherapeuten messen die Gesundheit eines Systems an seiner Offenheit, Freiheit und Flexibilität im Austausch mit dem Umfeld, seinen Krankheitsgrad an seiner Geschlossenheit und Abschottung.“ (Duss-von Werdt, 2011, S. 94 f). Ist hier die „energetische“ Offenheit Maturanas angesiedelt, als Teil der operationalen Geschlossenheit? („Die informationelle Geschlossenheit autopoietischer Systeme bei gleichzeitiger energetischer Offenheit bezeichnet Maturana als operationale Geschlossenheit.“ (von Ameln, 2004, S. 65). Ein System ist für Maturana energetisch offen, damit Austausch von Materie und Energie mit dem eigenen Medium möglich ist. Für ein psychisches System ist dies Kognition, im Sinne von Maturana Leben.
Für Luhmann ist Bewusstsein (das zwar immer strukturdeterminiert ist) ein Medium sprachlicher Kommunikation. Sprache ist nach meinem Verstehen bei Luhmann kein „Medium“ wie Christa Weber (2006) Luhmann interpretiert: „Das grundlegende Medium, durch das Sinn transportiert wird, ist (bei Luhmann) aber weiterhin die Sprache.“ Sprache ist bei Luhmann Mittel für Kommunikationen, aber nicht „Medium“ der Kommunikation. Bewusstsein ist bei Luhmann vielmehr „Medium“ für sprachliche Kommunikation. Hier ist es die sprachliche Kommunikation, die energetisch offen für ihr „Medium“ – das Bewusstsein – ist. Das heißt aber auch, dass es ohne „Bewusstsein“ keine sprachliche Kommunikation gäbe, so zumindest mein Verständnis.

3.3.7. Sprachfreies Bewusstsein

Für Luhmann sind Operationen des Bewusstseins nicht an Sprache gebunden (s. o.); genausowenig entspringt also Bewusstsein dem sprachlichen Weltbild. „Psychische Prozesse sind keine sprachlichen Prozesse, und auch Denken ist keineswegs ‚inneres Reden‘ (wie immer wieder fälschlich behauptet wird).“ (Luhmann 1991, S. 367. Gedanken sind bei Luhmann nicht an sprachliche Formen oder Regeln gebunden. Auch laut Maturanas Autopoiesis-Theorie findet Denken zunächst sprachfrei statt.
„Man muß sich nur beim herumprobierenden Denken, bei der Suche nach klärenden Worten, bei der Erfahrung des Fehlens genauer sprachlicher Ausdrucksweisen, beim Verzögern der Fixierung, beim Mithören von Geräuschen, bei der Versuchung, sich ablenken zu lassen oder in der Resignation, wenn sich nichts mehr einstellt, beobachten, und man sieht sofort, daß sehr viel mehr präsent ist als die sprachliche Wortsinnsequenz, die sich zur Kommunikation absondern läßt.“ (Luhmann, 1991, S. 368f.)
Ja, was ist denn dieses „sehr viel mehr“ Präsente? Energetisch muss sich auch ein „Bewusstsein“ für sein Fortbestehen Energie aus seinem „Medium“ holen. Wenn Bewusstsein nicht sprachlich kommunizieren kann, dann ist sein Medium anderswo geortet. Nach Maturana liegt die Lebensenergie, das Medium des psychischen Systems in Kognition.

3.3.8. Zum „Milieu“ des psychischen Systems

Was ist dieses Luhmannsche „sehr viel mehr (P)räsent(e)“? Hier lässt die Luhmannsche Theorie mehrere Interpretationen offen.
Interessant ist, dass das von Maturana (1987) verwendete spanische Wort „medio“ – wofür ich eher „Milieu“ bevorzugen würde, auf Deutsch auch „Mitte“ heißen kann. Das französische Wort „milieu“, heißt ebenfalls eutsch übersetzt „Mitte“. Und Duss-von Werdt siedelt Mediation auch in eine Mitte ein: „Mediation nimmt nicht Partei für Menschen gegen Menschen, sondern möchte, dass unter ihnen in der Mitte jeweils für alle Raum sei, die darin Platz nehmen wollen. Die Mitte ist da, damit Menschen für Menschen Menschen sein (homo homini homo) und sich als solche solidarisieren können, wenn sie wollen. Darin liegen gleichzeitig auch die Grenzen der Vermittlung und ihr Realismus“. (Duss-von Werdt. 2011. S. 111)
Denkbar ist aber auch, dass das „Milieu“ des Bewusstseins (das nicht kommunizieren kann), eben dieses von Luhmann erwähnte sprachlose Element ist, das „sehr viel mehr Präsente“, diese sprachlosen Räume, die auch in der Translationswissenschaft erwähnt werden.

3.3.9. Sprachlosgelöste Räume in der Translation

Die Pariser Schule, vertreten durch Danica Seleskovitch und Marianne Lederer, betont, dass die Sinnerschließung jenseits der Wörter stattfindet. Hier wird das Verstehen an „Deverbalisierung“ („la déverbalisation“) geknüpft. Mithilfe seines kognitiven Gedächtnisses („la mémoire cognitive“) müssen sich die ÜbersetzerInnen von dem Wortlaut der Senderaussage lösen und den Sinn wiedergeben. „Es geht darum, sich von den linguistischen Zeichen loszulösen, um zeitgleich kognitiv und affektiv den Sinn zu erfassen.“ (Lederer, 1994, S. 213. Ü.A.) Der kognitive und affektive Sinn ist implizit. Er verbirgt sich hinter einem Minimum an expliziten Sprachelementen. Swetlana Geier, den Translationsprozess beschreibend, also den Weg durch die sprachlichen Zwischenräume, nennt es den „präverbalen Zustand“ (Geier 2008). Die sprachlosgelösten Räume der Sinnerfassung sind für TranslatorInnen der tägliche Weg zur Erfüllung des Auftrages. TranslatorInnen sind besonders geübt in der sprachlosgelösten Abstraktion, in dem Beschreiten der Begriffsebene jenseits der Bezeichnungen.
Wenn in diesen sprachfreien kognitiven Räumen auch das Milieu (das Lebenswasser) des psychischen Systems, also das Bewusstsein angesiedelt ist, können verantwortungsbewusste TranslatorInnen aus der sprachlosgelösten Kognition für die Sinnerschließung schöpfen, nicht nur für die Auftragserfüllung. Dies würde eine erweiterte – gewiss subjektive – Interpretation des Wittgensteinschen Spruches „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. (…) Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ ergeben. (Wittgenstein 1963, 6.42; 7 zit. nach Duss-von Werdt, 2011, S. 100). Duss-von Werdt sieht in diesem sprachlosen Raum die „nonverbale Kommunikation“ (vgl. Duss-von Werdt S. 100 im Zusammenhang mit Wittgensteins Aussage).
„Interessant ist: Wenn man unter ‚Milieu‘ (Spanisch: „medio“. Deutsch: „Milieu“ oder „Mitte“. [s. Exkurs Wissmann, 2012, S. 39f], Übersetzung der Autorin) das versteht, was ‚in der Mitte‘ oder ‚dazwischen‘ liegt, dann ist es die Mitte / das Milieu der Reflexivität und nicht der Identifikation. Und die Reflexivität existiert im Grunde nur, während sie stattfindet. Sie ist von der Reflexion als Handlung nicht zu trennen. (…) In diesem Sinne: wenn Reflexion geübt wird, dann ist es ein ganz spezielles Milieu, das in der Mitte liegt; dann merkt man, dass Reflexion in einem ganz speziellen Verhältnis zur Zeit steht. Weil sie eine Art von Beweglichkeit ist, verweigert sie festlegende Formen. Sie gehört einer Sphäre an, wo auch die Kunst des Theaters angesiedelt ist.
Luhmann schließt in seiner Theorie nicht aus, dass sich psychische Systeme von diesem beweglichen sprachlosen Milieu speisen, wo „sehr viel mehr präsent ist“. Das Milieu als Raum der menschlichen Kognition. Wie Luhmann und Duss-von Werdt kann ich genausowenig über dieses Milieu etwas sagen, beide streiten dieses aber auch nicht ab.

3.3.10. Weisheit

Watzke unterscheidet Weisheit und Intelligenz. Sein Zugang zu Mediation erfolgt über die Betätigung von Fähigkeiten (z.B. Empathie), die er der Weisheit zuordnet und die sich, systemisch gesehen, in dem sprachlosen Raum der Kognition – dem Luhmannschen ‚Milieu‘ des psychischen Systems (Bewußtsein) – ansiedeln lassen. „Weisheit widersteht den Tendenzen zu habituellen, automatisierten Verhaltensmustern. Während Intelligenz Widersprüchlichkeit schwer erträgt, kann Weisheit konstruktiv mit Widersprüchen umgehen (Ambiguitätstoleranz), sieht Dinge in größerem Zusammenhang, verfügt über Scharfsinn, Durchblick, Intuition, Liebe zu Menschen, zur Natur und Demut. (…) Weisheit zielt auf das Gesamtwohl ab, auf Fürsorge, auf ein erfülltes sinnstiftendes Dasein, auf Lebensglück möglichst vieler. Weisheit ist offen für dialektisches Denken, für die Verwendung von Metaphern, Umdeutungen, das Erkennen, Übertragen, Erweitern und Transformieren von Mustern.“ (Watzke, 2008, S. 22).

4. Resümee

Die Auseinandersetzung mit Autobiografien als Quellen der Prozessbeschreibung bedarf noch einer abschließenden Reflexion:

  1. „Kein Erlebnis ist so, wie es erlebt wurde, zu wiederholen, die frühere Erlebniswirklichkeit daher niemals adäquat reproduzierbar.
  2. Was bewahrt wird, ist nicht das Erlebnis selbst, sondern nur die Vorstellung davon, die keineswegs die Fülle des Damaligen umschließt.
  3. Nicht nur diese Vorstellungen, auch die mit ihnen verbundenen Bedeutungsgefühle unterliegen einer ständigen Wandlung.“ (Aichinger, 1989. S. 181)

So gesehen, können Autobiographien zwar reflektiertes Erleben teilen, sie bleiben aber subjektive Rekonstruktionen und eben auch Konstruktionen.
Die systemisch-mediative Haltung scheint mir DolmetscherInnen einen Schutz geben zu können, sich von Ideologien instrumentalisieren zu lassen. Die Luhmannsche Systemtheorie bleibt Theorie, kann aber als Einstellung verstanden und umgesetzt werden. Wenn „Handlungen Haltungen entsprechen“, dann appelliert die systemische Einstellung konstant an die Verantwortung des Einzelnen, also auch während der beruflichen Tätigkeit. Sie appelliert an die eigenpersönliche Wachsamkeit und hilft deswegen eine hilfreiche Distanz auch im empathischen Verstehen zu wahren. Die auf den ersten Blick sich erweisende Grenze dieser Theorie, dass aufgrund der Undurchdringlichkeit der beteiligten Systeme endgültige Gewissheit ausgeschlossen ist, hat sich für mich schlüssig dahingehend verschoben, dass einem Bewusstsein immer die Möglichkeit verbleibt, in der Reflexivität zwar nicht zu absoluter, aber doch zu genügend Gewissheit zu gelangen, um auch Konsequenzen aus der „Verneinung“ zu ziehen, ja ziehen zu müssen.
Die Luhmannsche Systemtheorie setzt auf der Ebene der Abstraktion an und verfährt schematisch-deskriptiv. Durch die deskriptive und abstrakte Vorgehensweise erscheint diese Theorie für PraktikerInnen nicht brauchbar, weil weder Einzelprozesse noch Mitspieler betrachtet werden. Sie hilft aber, Kommunikationsprozesse zu analysieren, Operationen zu beobachten und menschliche Ressourcen zu situieren.
Wenn Mediation als Haltung verstanden wird – hier spezifisch die systemisch-konstruktivistische Haltung – eröffnen sich Möglichkeiten für das psychische System der DolmetscherInnen zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem aufgezeigten Spagat zwischen vorgegebenen Rollen und Grundsätzen sowie der Berufsethik einerseits und den pragmatischen Herausforderungen von Kommunikationen andererseits, und zu immer wieder neuen und bewussten Entscheidungen. Ganz im Sinne Duss-von Werdts: „Ethos ist Praxis, welche Ethik nicht ersetzt, sondern personifiziert gelebt wird.“ (Duss-von Werdt, 2011, S. 98). Zugleich wird das menschliche Maß und die Ethik in bescheidenen Grenzen gehalten. Wenn ein psychisches System auf Grundlage der systemischen Haltung agiert, wird es bescheiden, aufgrund des Wissens um den eigenen blinden Fleck. Als Beobachter kann es die psychische Verantwortung jenseits der zugeschriebenen sozialen Rolle souverän leben.
Selbstkritisch möchte ich noch hinzufügen, dass ich in dieser beobachtenden Suche vor allem Lehrmeinungen, Erfahrungsberichte, Memoiren, Abhandlungen und einige bereits vorliegende empirische Studien befragte. Aufnahmen von Mediationen und Dolmetscheinsätzen könnten die Frage nach der Instrumentalisierung empirisch beantworten. Was wäre jeweils eine prototypische Stunde – wenn sowohl im Falle der Mediation als auch des Dolmetschens der Verlauf der Sitzungen situationsabhängig ist? Ich habe mich für die Befragung von einem Stück reflektierter Praxis entschieden. Mit einem anderen Untersuchungsdesign hätten sich womöglich andere Ergebnisse gezeigt.
Die Auseinandersetzung mit der mediativ-systemischen Haltung auf der Grundlage der Systemtheorie von Luhmann hat mir Perspektiven eröffnet, die möglicherweise einen Ansatz bieten, wie sich DolmetscherInnen vor der Instrumentalisierung durch Ideologien schützen können. Dies ist vermutlich eine Möglichkeit von mehreren. Brauchbares Ergebnis dieser verstehenden Suche ist die Möglichkeit der Erweiterung der systemisch-konstruktivistischen Haltung der Mediation auf das Dolmetschen.

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Eingegangen:
12.12.2016
Peer Review: 08.02.2017
Angenommen: 10.03.2017

Diesen Artikel zitieren als:
Schmidt C. (2017). Machtverhältnisse in der Dienstleistung. Widersprüchliche Rollenzuschreibungen und Verantwortung. Die mediative Haltung, ein mögliches Korrektiv?, Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, 3, 77-90.

Autorin

Clarissa Schmidt, Dolmetscherin und Mediatorin, 1970 in Paris geboren, lebte und arbeitete viele Jahre in Frankreich, Brasilien und in Deutschland. Derzeit in Tirol niedergelassen, international freiberuflich tätig, Absolventin des Universitätsinstituts ARGE Bildungsmanagement/SFU.

 

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