2018/01

Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften
Ausgabe 2017/01
ISSN 2312–5853

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Joseph Duss-von Werdt 1,◊

Gewaltfreies Denken über Gewalt

Zusammenfassung

Vor ungefähr 2400 Jahren schrieb der griechische Erkenntniskritiker Demokrit ein für unsere Zeit passendes Programm: „Im Viel-Denken, nicht im Viel-Wissen soll man sich üben. Das Denken zeigt, dass wir in Wirklichkeit über nichts etwas wissen, sondern dass jedermanns Meinung nur auf den ihm zufließenden Vorstellungsbildern beruht.“2
Diese relativen Vorstellungen gelten häufig als absolute Wirklichkeit oder Wahrheit. Doch wie soll ich beweisen, dass etwas unabhängig von mir so aussieht, wie ich es sehe? Wie kann ich etwas sehen, ohne es zu sehen?
Es lohnt sich, über das Denken nachzudenken.
Seit langem notiere ich fast täglich meine Meinungen über Ereignisse und Informationen, die ich für gewalttätig halte. Wie in der Mediation, versuche ich gewaltfrei darüber nachzudenken. In einer chaotischen Wendezeit, in welcher alles ausser Rand und Band gerät, ist es schwierig, gesicherte Übersichten zu erzielen. Ich rechne mich nicht zu einer elitären Minderheit von Experten, die für alles eine Erklärung haben, sondern zu der von ihr überwältigten Mehrheit. Wo diese nicht schweigt, wird sie häufig mit Gewalt dazu gebracht

Abstract

About 2400 years ago, the Greek philosopher Democritus wrote a contemporary program: “One should master rather thinking much than knowing much. The thinking shows that we actually do not know something about anything, as everybody`s opinion rests on their own images.”3
These relativist images are often considered to be objective reality or truth. But how can l prove what something looks like independently of me, when l see it that way? How can l see it without seeing it?
It is worthwhile to think about the thinking
Since long l have been making notes about events and information that are violent for me on an almost daily basis. As in mediation l try to think about them nonviolently. In a chaotic transition, in which much is leading astray, it is difficult to find some kind of secure position. I do not identify with a privileged minority of experts who have explanations for almost everything, but with a vast majority being suppressed by them; where they do not keep silent, they are forced to do so

Keywords: Gewalt, Erkenntnisinteresse, reflektierende Position / violence, epistemology, reflecting stance


2 Nestle W.: Die Vorsokratiker, Wiesbaden 1978
3 Nestle W.: Die Vorsokratiker, Wiesbaden 1978

Die Auswahl aus den erwähnten Notizen mag sowohl zum stillen als auch zu dialogischem Denken anregen.

1. Posthumanes Denken: Humane und inhumane Mit-Menschlichkeit?

Wer von jemandem sagt, ihn voll und ganz erkannt zu haben, ist immer zu früh und tut ihm Gewalt an. Human gesehen ist es inhuman, einen Menschen festzuschreiben, um ihn chancenlos abzuschreiben.
Nach meiner Meinung entstehen Menschenbilder im zwischenmenschlichen Begegnen, Hören, Sehen, Fühlen und Handeln. Jeder trägt dazu bei, wie der andere sich und ihn sieht, und was das gefühlsmäßig an Sympathie, Befremdung, Begehrlichkeiten auslöst. Alle diese humanen und inhumanen Menschlichkeiten sind mit-menschlich.
Nach Artikel 1 der Europäischen Menschenrechte sind wir nicht alle Menschen Geschwister, sondern nur Brüder. Frauen warten immer noch darauf, als Schwestern voll zur Menschenfamilie zu gehören.
Was immer wir einander antun, ob und wie wir uns kennen, mögen, ausbeuten, betrügen, belügen oder lieben, ist die Folge der gegenseitigen Wahrnehmung: So wie ich Dich wahrnehme, bin ich. Selbst wenn wir jemanden nur vom Hörensagen „kennen“, bilden wir in Freund- und Fremdbildern faktisch uns selbst ab.
Faktisch kommt von facere, Faktum ist selbst gemacht, Tatsache eine getane Sache. Ohne Menschen gibt es keine Fakten. Wirklichkeit wird gemacht, von Subjekten konstruiert. Wirklichkeit wird nicht „draußen“ in der Natur entdeckt, wie der unkritische, naive Realismus der Wissenschaft es annimmt. Die Gesellschaft für die deutsche Sprache kürte das Wort postfaktisch am 09.12.2016 zum Wort des Jahres. Das Kunstwort weise darauf hin, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten gehe. Wirklich ist, was wirkt. Emotionen entscheiden stärker über Krieg und Frieden als kühle Köpfe. Gutmensch war das Unwort von 2015. Auch postfaktisch ist ein Schimpfwort, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem hohen Bauchquotienten des Populismus.

Da die Globalisierung ein weltwirtschaftliches Konzept der gegenseitigen Zerstörung darstellt, war zu erwarten, dass sie nicht nur regional, national und geopolitisch, sondern bis in den zwischenmenschlichen Alltag hinein spaltende Auswirkungen haben wird.

2. „Siliconolisation“ oder der softe Totalitarismus des Digitalen

Die Demokratie gründet auf dem autonomen Urteil der Personen. Sie wird sabotiert durch die Ausweitung roboterisierter Lenkung auf zahlreiche Lebensbereiche. Stell Dir ein digital gesteuertes Parlament und Abstimmungssystem vor. Der posthumane Mensch versucht damit, seiner Menschlichkeit zu entkommen und die freie Entscheidung zu umgehen. Erleichtert das die Entscheidung über Krieg statt Frieden, oder bleibt alles beim Alten? Auch Tyrannen stellen dem Volk die Frage, ob es Krieg wünsche, um ihm damit ihre bereits gefallene Entscheidung anzulasten, doch wehe dem, welcher dagegen spricht. Wie gehen direktdemokratisch gewählte Regierungen mit den Stimmen des digitalisierten Volkes in den sozialen Medien um? Wie wirkt ein postfaktischer Staatspräsident?

3. Marktkonforme Mit-Menschlichkeit?

Der freie Markt wird zum Zwang, als Unternehmer seiner selbst gegen den Rest der Welt anzutreten, um als der Weltbeste wörtlich um jeden Preis wachsende Gewinne einzufahren. Der Kunde wird zu seinem Dienstleister. Im Unterschied zur kommunistischen Staatswirtschaft erschafft der kapitalistische Wirtschaftsstaat den Konsumbürger (citoyen consommateur), der sich sowohl selber bewirtschaftet als konsumiert wird. Bereits der römische Komödiendichter Plautus (255-185) und der Staatsphilosoph Thomas Hobbes (1588 – 1659) zeichneten den Menschen als des Menschen Wolf.
Steigerung: Wirtschaften, für Menschen wirtschaften, nicht Menschen bewirtschaften.

 4. „Mörder sind auch Mit-Menschen“

Wie kann man so was Abscheuliches gutheißen? In der Logik der Selbstgerechtigkeit vollzieht man an ihnen vorschnell die moralische Kapitalstrafe: „Das sind doch keine Menschen.“
Die provokative Aussage ist aber auch ein Test für das Verständnis ihrer Menschenwürde. Sie selber missachten die Würde ihrer Opfer. Wenn sie jedoch zum Racheopfer werden, herrscht die Symmetrie der Gewalt. Es wird Gleiches mit Gleichem vergolten.

5. Gewalt entmenschlicht den Täter und das Opfer

Gewalt ist nicht nur körperlich: Sie redet den politischen Gegner mit seinen eigenen Worten und Argumenten in Grund und Boden. Sie beschimpft, verleumdet, verachtet, schlägt mit Schlagwörtern zu und foltert, vergewaltigt bis zum Tod, demütigt, reduziert Fremde und Bekannte auf Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung als wären sie Objekte, die man verurteilt, um damit seine eigene „reine“ Identität zu demonstrieren.
Selber unter dem Schutz der Menschenrechte stehend, handeln gewalttätige Frauen und Männer unter ihrer eigenen Würde gegen die Würde anderer Mitmenschen.
Bewegt sich auch die Staatsgewalt (Verwaltung, Gesetz, ...) am Rande der Menschenrechte auf einer Gratwanderung, wenn sie Menschen in echte und falsche Flüchtlinge und andere Kategorien einteilt, „unwürdig“ unterbringt und ihr Elend administrativ erledigt?

Da man auf den Ansturm nicht vorbereitet war, musste es chaotisch werden. Dazu trug gesellschaftlich auch die Facebookisation bei. Zudem war nicht klar, ob die Freiheiten von Gewissen, Meinung und Religion nur für Einheimische, sondern auch für Touristen, Vertriebene, und Verfolgte gelten. Dass es verbriefte universelle Menschenrechte gibt, war nicht einmal Staaten klar, die sie unterzeichnet hatten.

6. Wer sind wir?

Mit “wir sind wir“ ordnen sich nicht nur viele Bayern in das eigene Wir-System ein, sie schließen andere auch davon aus. Als ich 1951 das erste Mal im Hofbräugarten zu München einen krachledernen Einheimischen nach den zwei freien Plätzen an seinem Tisch fragte, kam zurück, „na-, san’s Preißen?“. Er war mit meiner Herkunft einverstanden. Mit dem vielen, was er über die Schweiz wusste, konnte ich mich nicht identifizieren. Zum Abschied zerquetschte er mir nämlich schmerzherzlich fast die Hand.

Zu einem Wir gehören mindestens zwei Personen. Maximal sollen wir inzwischen gegen acht Milliarden, 8.000.000.000 homines sapientes geworden sein. Dabei von einem solidarischen Wir zu reden, wäre jedoch zynisch. Wer ist befugt, mit oder ohne Auftrag im Namen aller zu sprechen? Politiker und Wissenschafter und wir anderen reden zwar auch in der Einzahl „vom Menschen“, - und meinen damit Alle. Mit dieser Verallgemeinerung abstrahieren wir sogar achtmilliardenmal vom Subjekt, welches die antiken Philosophen bereits als nicht erfassbar (individuum est ineffabile) bezeichneten. Von einem globalen Mit-Mensch-Bewusstsein kann noch weniger, also gar nicht die Rede sein.
Wir-Systeme schließen sowohl ein, wie aus. Keiner gehört sowohl überall, als nirgends dazu. Jeder gehört irgendwo dazu, auch wenn man nicht mit ihm rechnet?
Nicht der Islam kommt aus Europa, sondern seine Anhänger kommen nach Europa. Nun ist er da, je von wem vertreten, gefürchtet, geliebt gehasst, .... Sie gehören zur Menschheit. Wer kann ihnen das Recht auf Mit-Menschlichkeit absprechen?
Seit jeher zogen Europäer aus, um zu kolonisieren. „Ihr habt uns alles gestohlen, das Land, die Frauen, das Gold, - alles“ schrie uns ein Schwarzer Mann in der Strassenbahn im internationalen Genf aus. Er will nicht unbedingt ein Eigentum zurück, welches er nicht hatte, sondern sein Menschenrecht auf Platz zum Leben. Dazu gehört Raum, und der wäre für alle da. Weil viele ihn zum menschenrechtlichlichen Eigentum erklären, kommt es zu Eroberungen mit Geld und anderen Waffen. Eine der heute umstrittensten Fragen der Demokratie lautet: Wer ist das Volk?
Flüchtende heißen wir mit freundlichen Zeichen, mit einem Handschlag, einem Stück Brot, Geschenken, Kleidern, Einladungen zum Essen, Spielzeug, einem warmen Blick und Lächeln in unserer Gemeinschaft willkommen. Wie das ankommt, sieht man ihnen nicht immer an. Traumatisierten Menschen, besonders Kindern fehlt vielleicht das nötige Vertrauen.
Es ist mit-menschenunmöglich, nicht zu kommunizieren. Jeder macht es einmalig verschieden, er ist anders auf Andere bezogen. Nicht Geräte sind „soziale Medien“, sondern Menschen, welche sich ihrer bedienen. Als Waffen können sie tödlich sein. Mit dem SOS-Ruf retten sie Leben. Verdienen sie mehr Vertrauen als Menschen?

7. Lügen kann nur, wer die Wahrheit kennt

„Was ist Wahrheit?“5 Verdient die Wahrheit ihren guten Ruf? Ist alles gut, was in ihrem Namen getan wird? Tut man ihr Gewalt an, wenn man sie auch ins Wörterbuch der Gewalt aufnimmt? Macht die Wahrheit immer frei?6
Wenn ja, woher kommen dann die Angst und das Misstrauen in andere? Offenbar fremdeln nicht nur Babys. Hat das mit Heimweh zu tun? Gefährdet es die ohnehin labile Identität?

5 Joh 18.36
6 Joh 8.32

8. Wie europäisch ist die Charta der Menschen-rechte?

Sich politisch korrekt zu europäischen Werten bekennen, - sich mit einem der vielen Christentümer und der humanistischen Aufklärung mit (gesegneten) Waffen und wehrhaftem Stacheldraht verteidigen, geht leichter von den Lippen als vom Herzen zur Hand.

 

9. Was ist populärer, das Schlechte oder das Gute?

Ich weiß nicht, von wem der Satz „nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ (Karl Kraus?) stammt. Er hat offensichtlich Konjunktur. Den ganzen Tag über kann man in den Medien Tote zählen. Wozu denn? Um darüber Wetten abzuschliessen? Um sich genüsslich über den Schiffbruch auf dem Mittelmeer und den Bombenhagel über Aleppo und Mossul zu entsetzen? Um sich mit der Ohnmacht zu quälen, nicht helfen zu können oder am Gesellschaftsspiel mitzumachen, Sündenböcke zu identifizieren?
„Es gibt nichts Gutes und Schlechtes, ausser man tut es.“ (Frei nach Erich Kästner) Welches von beiden es nun ist, weiss man erst nach der Tat, wenn überhaupt.
Zwei- und Mehrdeutungen lassen sich nicht vermeiden. Das Gegenteil stimmt auch. In einer guten Familie mögen sich alle, obwohl sie sich kennen.

 

10. Sind Emotionen kriegstreibender als die Vernunft?

Wer andere hasst, verliert leicht die Kontrolle über sich. Die diplomatischen Empfehlungen, einen kühlen Kopf zu wahren, verpuffen leichter im Leeren. Wer will denn schon Verständnis für den Feind aufbringen?
Der IQ (Intelligenzquotient) sowie der BQ (Bauch-quotient) und die EI (für emotionale Intelligenz nicht für eine Terrorgruppe) gehen oft über einander hinweg oder ineinander über. Die Vernunft (ratio) verliert herzlos den Verstand und dieser kopflos die Vernunft.

11. Ist es nicht schade um den schlechten Ruf der Konflikte?

Konflikte halten Menschen negativ zusammen oder ebenso auseinander. Es ist schade um ihren schlechten Ruf. In ihnen stecken Energien, die sowohl destruktiv, als auch konstruktiv genutzt werden können. Man stelle sich vor, wie viel technischen Erfindergeist und psychologische Propaganda gescheite Köpfe, Kriege zu mobilisieren vermögen.
„Was ist das Gute an Ihrem Konflikt?“, fragte ich einmal die Mitglieder von vier Generationen einer Unternehmerfamilie. Großmutters Antwort war klar: „Dank dem Konflikt reden wir nach Jahren des Schweigens wenigstens wieder miteinander.“ Dem Konflikt sei also Dank. Ihn nicht zu mögen kann seine Chancen verpassen.

12. Friedensbudgets im jährlichen Staatshaushalt?

Hans-Peter Dürr7, Nuklearphysiker und Kritiker der Atomwirtschaft, schrieb unter ausdrücklicher Bezug-nahme auf Mediation in seinem Buch Warum es ums Ganze geht (2009), der Weg der gewaltlosen Konfliktbearbeitung ist die einzige zukunftsfähige Alternative. (...) Sie muss ein zentrales Anliegen der Gesellschaft werden, wie es bisher ihr militärisches Engagement war. Es muss deshalb unter der direkten Kontrolle des Souveräns, den Bürgerinnen und Bürgern, stehen. (Dürr 2009). Sollte also das Volk über Krieg und Frieden entscheiden? Dürr regte bei der deutschen Bundesregierung die Schaffung eines Ministeriums für Konfliktbearbeitung und Friedenssicherung an, bekam aber nie eine Antwort.
Der Friede ist billiger, als der Krieg. Das macht ihn marktwirtschaftlich schädlich und medial unpopulär. Mit den Kosten für einen einzigen Kampfjet samt Munition, Training und Unterhalt ließe sich viel für den inneren und äußeren Frieden, die Friedensbildung, den Umgang mit Konflikten, die Aufklärung über die Hintergründe von Gewalt u.a.m. erreichen. Im 17. Jahrhundert ging der Naturrechtler Christian Wolff (1679 - 1754) soweit, im Frieden den natürlichen Zustand der Gesellschaft und in der Mediation das entsprechende Mittel zu seiner Erhaltung und Wiederherstellung zu sehen (Duss-von Werdt 2015, S. 77).
7 (1929-2014) Nachfolger von Werner Heisenberg

13. Eine souveräne Nation steht (nicht nur) in der Not zusammen

Wenn Nationalstaaten ideologisch nach links und rechts auseinanderdriften, werden sie zu Fassaden eines geeinten Volkes. Seine Politik ist nicht mehr dafür da, dem ganzen Volk zu dienen.

14. Wer radikalisiert wen?

Von Radikalisierung spricht man fast nur im Zusammenhang der Rekrutierung von Personal für extremistische Terrormilizen.
Kam es irgendwo schon einmal zur Eskalation des Friedens mittels Gehirnwäsche?
Terror und Antiterror schaukeln sich gegenseitig zur systemischen Einheit hoch.
Das Tun des einen ist das Tun des andern.

15. Ende der Konsenskultur?

Der Hochkommissar für die Menschenrechte der UNO, der Libanese Zeid Ra’ad Al Hussein erfährt es ganz persönlich: „Ich bin ein weisser Muslim mit einer europäischen (schwedischen) Mutter und einem arabischen Vater. Das erzeugt bei Rassisten Verwirrung. Besonders in den USA und Europa ist die Rhetorik des Hasses sogar ganz banal.“ „Ich bin überrascht von der neuerlichen Erosion des Konsenses, welcher bis jetzt die Institutionen und das internationale Recht als Garanten des sozialen Zusammenhalt, des Friedens und der konstruktiven Beziehungen unter den Staaten aufrechthielt.“
„Der Austritt Russlands und einiger Staaten Afrikas aus dem internationalen Gerichtshof in den Haag schwächen die Glaubwürdigkeit der UNO und die internationale Ordnung.“8
8 Le Temps 10. 12. 2016 „Die zerbröckelnde internationale Gemeinschaft“

16. Con-sensus - Dis-sensus: Gleiche oder gegen-teilige Sinnesrichtung

Konsens strebt nach Einung, Dissens nach Ent-Zweiung. In demokratischen Gesellschaften radikalisiert sich zur Zeit die zweite in Inhalt und Tonlage. „Der Ton zwischen den Parteien ist rauer geworden, Anstand und Respekt, das Grundwasser demokratischer Gesittung, wird trüber. Der Ruf nach Transparenz ist zwar da, wo aber glaubwürdige Tatbeweise? Das Waten der Sicherheitsorgane in Tümpeln der Korruption pflotscht täglich durch die Medien und untergräbt das Vertrauen in Wirtschaft und Staat.
Um einen Konsens zu erreichen, braucht es gemeinsames Verständnis der unterschiedlichen Probleme, Konflikte und Interessen. Wenn von Konferenz zu Konferenz nur die Litaneien der jeweiligen Positionen heruntergebetet werden, laufen sie leer. Um gemeinsame Lösungen zu finden muss man unterschiedlich vorhandene Konflikte anhören und zu verstehen versuchen. In Gesprächen kommt eine Vielfalt der Interessen, Hoffnungen sowie Ängste zum Vorschein. Werden sie ernstgenommen, wachsen Vertrauen und Verständigung.

17. Nicht die Konflikte sind das Problem, sondern der Umgang mit ihnen

Je mehr ich begann, mich intensiv mit Mediation einzulassen, desto mehr entpuppte sich der Traum einer konfliktfreien Welt als Illusion. Friede lebt von Vertrauen und Demut = Dienmut, Zivilcourage, die andern zu übertrumpfen. Wer andere klein und schlecht macht, wird dabei nicht größer und besser.

18. Wer will den Frieden (nicht)?

Dienen Friedenskonferenzen auch der Verhinder-ung des Friedens? An der Wiener Konferenz für Mediation der ARGE Bildungsmanagement bildeten sich ab dem 12. September 2001 spontane Gesprächsgruppen um das herum, was am Tag zuvor in New York geschehen war. Einmal sass ich mit jüdischen, palästinensischen und christlichen Teilnehmern zusammen und fragte in die Runde, „wer will überhaupt den Frieden?“ Langes Schweigen, bis eine Palästinenserin flüsterte, „niemand“. Zuerst betretenes Schweigen, dann allgemeine Zustimmung. Die gleiche Frage kann man auch an andere Konferenzen, z.B. für Syrien, Libyen, Irak, Türkei und die Kurden, sowie den IS stellen. Ist da überhaupt jemand am Frieden interessiert, und wenn ja, mit wem? Russland mit den USA und umgekehrt? Verhindern nicht bereits die Struktur des Sicherheitsrates und die Vetovorrechte bevorzugter UNO - Mitglieder den Konsens zu Friedensverhand-lungen? Oft bilden sich immer wieder wechselnde Allianzen aus Motiven, welche mit der traktandierten Zielen nichts mehr zu tun haben. Sie verkommen zum Pokerspiel um Millionen von Menschen. Also: Friedenskonferenzen zur Aufrechterhaltung des Krieges?

19. Wo beginnt der Friede?

Friede ist nicht Abwesenheit von Krieg. Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit.“ Baruch de Spinoza (1632 – 1677).

Analog dazu kann man von der Mediation sagen, sie sei nicht Abwesenheit von Konflikten, sondern Neigung zu Verständigung, Vertrauen und Gerechtigkeit in Krieg und Frieden.
Friede ist ein Glanz von innen, den man dem Friedlichen ansieht. Schon ein Lächeln kann ansteckend und beruhigend wirken.

20. Durch Frieden zur Sicherheit, nicht durch Krieg?

„You will never reach peace through security. You will reach security through peace.“ 9
„Du wirst nie durch Sicherheit den Frieden erreichen. Mittels Frieden hingegen kommst du zu Sicherheit.“
9 Johan Galtung (Twitter @JohanGaltung, 12.08.2016)

21. Die Demokratur der Monologe verunmöglicht den Dialog

Eine der schwierigsten Fragen der Volksherrschaft, das heisst der Demokratie, lautet, „Wer ist das Volk?“ Die ganze Bevölkerung samt Regierung? Nur die politisch aktiven Bürgerinnen und Bürger? Das Wählervolk der Populisten, der staatstragenden Gruppierungen? Der servile Minimaldemokrat, der stets dazu nickt, was man ihm vorsetzt, und als bezahlter Claqueur agiert.
Parteien, welche ihre Mitglieder bevormunden und ganz entmündigen, berauben sie ihrer verfassungsmäßigen Freiheitsrechte. Fundamentalistische Ideologien führen zu oligarchischen Paralleldemokraturen mit totalitären Tendenzen.
Populistische Tendenzen agieren mit der Angst vor den Folgen der universellen Globalisierung: Gefährdung der Identität, Blut (völkischem Rassismus) und Boden („Ausverkauf der Heimat“). Parteien, „Bürger-Bewegungen“ manifestieren mit populistischer Volklore (Trachten, Fahnen, Fanfaren) und anderen Symbolen von Nähe und Zusammenhalt auch Ausschluss, Verneinung. Während den Studentenunruhen der 68er Jahre in Frankreich fragte ich Teilnehmer eines Protestumzuges, wofür sie manifestierten. Antwort: „Monsieur, das ist keine Manifestation10, sondern eine Demonstration “11 „Das Volk zeigt gewaltlos, was es will.“ Wird es von der polizeilichen und militärischen Staatsgewalt stummgeschlagen, bekriegen Teile des Volkes stellvertretend das ganze Volk.
Zur demokratischen Gesprächskultur gehört der Rhythmus vom aufeinander Hören und nacheinander Reden. Beim Behaupten von sogenannten Wahrheiten ohne persönliche Argumente, beim Widerlegen des Gegners mit dessen eigenen Begründungen und Taten (argumentum ad hominem) oder mit parteiideologischer Orthodoxie redet man nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Dafür ein Beispiel: Eine Parteikollegin des Bürgermeisters legt diesem ihre Ideen über die Verkehrsführung in der Innenstadt vor. Dieser findet sie ausgezeichnet, doch in Frage kommen sie nicht, denn die Opposition hat dasselbe vorgeschlagen. Nein. Zu allem Nein sagen ist die bequemste Form des Politisierens, weil sie einem erspart, sich sowohl mit der Sache selber als auch mit andern Ansichten und Lösungsideen zu befassen.
10 manus = Hand (gemeint „ohne körperliche Gewaltanwendung“)
11 Zwei Wörter in einem: Demos = Volk, monstrare = Hinweisen, Zeigen, sich bemerkbar machen

 

22. Sich verstehen und verständigen kann man auch, ohne einverstanden zu sein

„Es steht schlimm mit den Menschen. Jeder denkt nur an sich, nur ich denke an mich.“
Mit allen und allem einverstanden zu sein ist eine Illusion. Verschiedene Ansichten ungleicher Menschen machen den Dialog erst möglich und sinnvoll. Sie bereichern die Vielfalt der Sichtweisen, dienen den Interessen möglichst vieler und besitzen das Potenzial zur breiteren Akzeptanz von Lösungen.

23. Vertrauen auf Vorschuss

Sind Menschen des Menschen natürliche Feinde? Sind sie ihrer selbst sicherer, wem sie vertrauen können und wem nicht?
Fehlt es an Vertrauen auf Vorschuss? „Wer nicht genügend vertraut, wird kein Vertrauen finden.“ (Laotse) „Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind.“12
12
Lukas 2.14

 

24. Und bist Du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt (Goethe)

Wortgewaltige Verführer hämmern mit erhobenen Fäusten Schlagwörter in die Köpfe und berufen sich dabei auf die Demokratie. Politische Lautstärke ist kein Markenzeichen eines mündigen Volkes, das nach Montesquieu gemäß der eigenen Verfassung sein eigener Herr und Untertan ist. Mündig ist nicht, wer sich seines Mundes gewandt zu bedienen weiss. Das Wort kommt von „munt“, der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Ein Mediand versuchte mich einzugemeinden mit dem Satz, „alle Frauen sind gleich“. Ich kenne nicht alle, - und Sie?

25. Auf Freiheit steht die Todesstrafe

Missliebige Mit-Menschen mit dem Tod zu bedrohen ist auch bei uns alltäglich. Straflos Menschen zu töten, wenn sie sich für die Freiheit anderer einsetzen, halten auch gewählte Staatspräsidenten, die die Menschenrechte unterschrieben haben, für ihr Recht. Sie führen „selbstgerechte Kriege“ für die Ehre ihres Volkes. Kriegsverbrechen begehen nur ihre Feinde, welche dafür den Tod verdienen. Ist Krieg nicht an sich selber ein Verbrechen?
Wenn er gerecht wäre, müsste er allen dienen, denn Gerechtigkeit kommt nur durch Gegenseitigkeit zustande. Erfolgt er aus Rache, wird er zum Anlass der Wiederherstellung der verletzten Ehre.
Was in den USA auf den 11.September 2001 folgte, versprach Rache und Sicherheit. Hat die globale Sicherheit inzwischen zugenommen?
Der arabische Frühling ging unter in Bürgerkriegen und terroristischem Tourismus junger Menschen ohne Perspektive auf ein freies Leben und anderem mehr.

26. Besteht unsere Freiheit aus einem Spiel mit Freiheiten ohne Grenzen?

Gibt es eine absolute, d.h. losgelöste Meinung? Ich meine nein, und halte deshalb die Freiheit, „Charlie zu sein“, für heikel. Sie schafft Fronten und hebt sie wieder auf. Unbegrenzte Freiheiten gefährden die Freiheit. Wenn man ohne Respekt alles sagen und machen kann, was man will, geht es auf Kosten der Freiheit anderer.

27. Integration begründet Mitspracherecht

Integration ist ein zwischenmenschlicher Vorgang. Ob ein Fremder sich bei uns heimisch fühlen kann, hängt auch davon ab, ob und wie wir als seine Mitmenschen mit ihm umgehen. Gelingt es beiden mit der Zeit, sich zu verständigen, indem sie sich einander verständlich machen? Das setzt allseitig wachsendes Vertrauen voraus.
Es gibt Fremde, welche in der neuen Gemeinschaft besser integriert sind, als Einheimische, welche mit ihren Landsleuten nicht einig sind und fremd fühlen.

 

28. Grenzenloses Wachstum?

Was wachsen soll, verbraucht Ressourcen, die nachwachsen, um auszureichen. Das tun sie aber nicht grenzenlos. Wenn sie schwinden, gefährden sie das global verschriebene Wachstum des überfließenden Gewinns von Minderheiten. Damit alle leben können, braucht es keinen Überfluss, sondern für alle genug zum Leben. Das wiederum setzt voraus, dass jene, die genug haben, denen, welche nichts oder nicht genug haben, geben. Der Ausgleich erfolgt nicht über Geben und Nehmen, sondern über Geben und Bekommen. Bei gerechter Mit-Menschlichkeit geben und bekommen alle, damit sie leben können.
Mit Blick auf das Ganze leben wir sowohl über als auch unter unseren Mitteln. Um die angemessenen Folgerungen daraus zu ziehen, fehlt uns das mit-menschheitliche Bewusstsein.

29. Globale Selbstzerstörung?

Unsere Erde verändert sich mit sichtbar zunehmender Geschwindigkeit klimatisch, tektonisch, demographisch, ökologisch, kulturell und gesellschaftlich. Dabei verläuft nicht alles so, wie wir wünschen. Die Erde bebt, Hurrikane nehmen an Zahl und Heftigkeit zu. Menschenströme verschaffen sich auf der Strasse explosiv Luft nach Freiheit. Der Osten und der Süden überfluten Europa, um sich zurückzuholen, was ihnen genommen wurde.
Manchmal ficht mich der Gedanke an, die Menschheit durchlaufe einen suizidalen Trip. Man mag mich deshalb einseitig als Pessimisten bezichtigen. Doch eigne ich mich dafür ebenso wenig wie für einen Optimisten, für den Alles mehr hat als nur zwei, eine gute und eine schlechte Seite. Unüberblickbar viele Bewegungen laufen gegen- und miteinander in einem ko-evolutiven Prozess gleichzeitigen Werdens und Vergehens ab. Ob sich daraus jemals ein sich selbst erhaltendes Gleichgewicht des Friedens ergeben wird? Wird die Menschheit je einen Weltfrieden erleben, den sie selber geschaffen hat?

30. Intime Gewalt in nahen Beziehungen

Statistiken belegen die wachsende häusliche Gewalt gegen Kinder und Frauen – und Männer. Aus Subjekten werden Objekte.

31. „Töten, so Gott will?“

Am Beginn der Rückeroberung von Mossul sagte der irakische Präsident am 01.11.2016, „wenn Gott will, schlagen wir dem Feind den Kopf ab.“ Was ist das für ein Gott, welcher von Menschen als Auftragsmörder rekrutiert wird? Es wäre heuchlerisch zu verschweigen, dass das Christen im gleichen Osten schon einmal taten. „Gott will es – Deus lo vult“ war seit 1095 ein Motto der Kreuzzüge, an das uns Muslime heute mit Recht erinnern.

32. Krieg der Natur gegen sich selber?

Die Naturgeschichte der Menschen erzählt unseren Hervorgang (Evolution) aus dem Schoß der Erde. Samt und sonders sind wir ebenso Naturprodukte von Dünn- und Dickhäutern, schufen Kulturnaturen voller Schönheit und barbarische Maschinerien der Verwüstung.
Das geht mich ganz persönlich an. Ich bin Natur mit einem natürlichem Bewusstsein und Gewissen. Sie erhält mich / uns / sich am Leben. Will ich sie bewusst leben, bin ich ihr im Gewissen zum Frieden verpflichtet. In meinem Bewusstsein, Natur zu sein, wird diese sich ihrer selbst bewusst.
Die Formel „Mensch und Natur“ trennt beide voneinander, „Mensch als Natur“ hingegen verpflichtet mich im Gewissen, mich mit ihr und mir zu versöhnen.

Literatur

Dürr, H. P. (2009). Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München.

Duss-von Werdt, J. (2015) homo mediator. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Le Temps, 10.12.2016 (41). Hunyadi Marc: Eric Sadin: La silicolonisaton du monde. Übers. v. J. Duss-von Werdt.

Le Temps 10.12.2016 „Die zerbröckelnde internationale Gemeinschaft“. Übers. v. J. Duss-von Werdt.

Eingegangen: 10.10.2016
Peer Review: 27.12.2016
Angenommen: 14.01.2017

 

 

Diesen Artikel zitieren als:
Duss von-Werdt, J. (2017). Gewaltfreies Denken über Gewalt. Zeitschrift für Beratungs- und Managementwissenschaften, 3, 11-18.


Autor

Joseph Duss-von Werdt ist Schweizer Psychologe, Theologe, Mediator und Hochschullehrer. Er gilt als Spezialist im Bereich der Familientherapie 1967 bis 1987 war er Leiter des Institutes für Ehe und Familie in Zürich und als Pionier der Mediation. Seit 1998 ist Joseph Duss-von Werdt als Lehrbeauftragter für Mediation an der Fernuniversität Hagen tätig.


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